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Ne Jutsch

Seinem Zweitwohnsitz im Hürtgenwald verdankte Heinrich Böll den „Erwerb eines Wortes“. Es war eine sprachliche Spezialität, die er beim Milchholen aufschnappte, als die Bäuerin immer einen „extra Jutsch“ Milch obendrauf spendierte.

Der „Jutsch“ ist eine jener undefinierbaren Maßeinheiten, bei denen nicht „mm“, „ccm“ oder „gr“ die Größe bestimmen, sondern Augenmaß und Großmut. Wieviel mag „ne Ärwel“ („Arm voll“) Holzscheite sein, wie viele Früchte „en Heivel“ (Hand voll) Kirschen oder „en Mangk Äppel“ (Korb Äpfel)? Ich glaube, meine Mutter hat ihr Leben lang nicht nachgezählt, wie viele Knollen „e Emmeche Äerpel“ (Eimerchen Kartoffeln) oder „ne Sack Klütte“ (Jutesack Briketts) enthält, geschweige denn „en Dos Worbele“ (Blechdose beim Waldbeerpflücken). Mit „nem Kittches Schmalz“ oder „nem Tick Botte“ verhält es sich im Ripuarischen wie im Hochdeutschen mit der „Prise Salz“. Meine Mutter schwitzte Blut und Wasser, als sie Kölner Verwandten das Rezept für ihr köstliches Hefegebäck aufschreiben sollte, das sie jeden Samstag in Form von zwei „staatse Wecke“ (großen Weißbroten), mehreren „Taate“ (Kuchen), „Höörnche“ (Hörnchen), „Oehseohre“ (Rosinenkringeln, wörtlich „Ochsenaugen“) und einem „Zuckerplatz“ aus dem Ofen zog. Bei dem Versuch, Zutaten und Zeiten exakt anzugeben, scheiterte sie verzweifelt. Sie wusste nicht genau, wie viel Zucker und Salz sie da rein gab. Der Zucker wurde bei uns im Zentnersack, das Mehl in 25-Kilo-Säckchen bevorratet, die Mengen wurden „nach Gefühl“ entnommen. Die Art des Weizenmehles, das eine Päckchen Bäckerhefe und die Anzahl der Eier wusste sie genau anzugeben. Aber wie lange und bei welcher Temperatur musste der Teig gehen? Wie lange blieben das Kurzgebäck, wie lange „Taate“ und „Weckbrote“ in der Röhre? Sie hatte noch nie auf die Uhr geschaut, sie hatte „Händchen“ und „Auge“ für Maß und Zeit. Und es klappte immer . . .


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