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Alles eine Frage der Perspektive

Die Caritas will auf die Bedürfnisse von Behinderten aufmerksam machen. Während der Aktion kommt es zu Diskussionen.
Bürgermeister Joachim Rodenkirch probiert einen Rollstuhl aus, fährt über den Platz und hört sich die Sorgen von Tammy Kayser (links), Mutter von Roxanne und Ilona Klein (rechts) an. Foto: Urban

Bürgermeister Joachim Rodenkirch probiert einen Rollstuhl aus, fährt über den Platz und hört sich die Sorgen von Tammy Kayser (links), Mutter von Roxanne und Ilona Klein (rechts) an. Foto: Urban

Freitagmorgen, 9 Uhr, Wittlich, Platz an der Lieser: Es ist wenig los. Einige Menschen wollen schnell weiter, andere sehen sich die Produkte an, die auf dem Frische-Markt angeboten werden. Heute gibt es einen besonderen Stand: Jugendliche und Erwachsene bauen einen weißen Pavillon und Tische auf. Darauf liegen ein Hemd, Handschuhe und Taucherbrillen. Dahinter ein Banner: »Maria Grünewald« – eine Wittlicher Einrichtung mit Wohn- und Förderangebot für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderungen. Die Jugendlichen, die den Stand aufbauen, sind Bewohner und Schüler in der Einrichtung. Einige haben geistige Defizite, andere sind körperlich eingeschränkt. Sie wollen zeigen, wie sie die Welt erleben.

Beeinträchtigung erleben

Ilona Klein, Einrichtungsleiterin von Maria Grünewald, erzählt: »Wir möchten die Öffentlichkeit für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen sensibilisieren. Wie leben sie im Alltag damit und wie kann die Gesellschaft helfen?« Jeder mitgebrachte Gegenstand soll eine Beeinträchtigung darstellen. »Wir haben zum Beispiel einen Rollstuhl, um zu verdeutlichen, wie schwierig es ist, damit über Kopfsteinpflaster zu fahren.« Interessierte Besucher trauen sich und  lassen sich von den Jugendlichen über den Platz führen. Durch Brille und Ohrschutz können sie dabei weder richtig sehen noch hören.
Ilona Klein erzählt, dass es oft Kleinigkeiten sind, die das Leben erschweren. Hohe Regale für Rollstuhlfahrer oder fehlende Handgriffe. Für Maria Grünewald ist die Aktion auf dem Platz an der Lieser eine Premiere und sie hat auch eine politische Dimension: »Bevor man städtebauliche Pläne umsetzt, wäre es schön, wenn man die Betroffenen anspricht. Sie können ihre Erfahrungen einbringen«, so Ilona Klein. Das möchte sie auch an den Wittlicher Bürgermeister Joachim Rodenkirch herantragen.
Ich bin neugierig und möchte aus erster Hand erfahren, wie es ist, wenn man nicht mehr richtig sehen kann.  Ich probiere eine Brille aus, durch die ich meine Umwelt nur noch verschwommen wahrnehme. Alleine traue ich mich jetzt kaum einen Schritt zu gehen. Nur mit Hilfe kann ich Treppen steigen oder die Straße überqueren. Ich bin sehr froh, als ich die Brille wieder absetzen kann. Mir wird bewusst, wie abhängig man mit so einem Handicap wird.

Keine Sondergenehmigungen

Inzwischen ist auch Bürgermeister Rodenkirch eingetroffen. Er sucht das Gespräch mit Ilona Klein. Sie erzählt ihm, dass sie sich wünscht, dass Menschen mit Behinderungen mehr eingebunden werden. »Bei mir rennen sie damit offene Türen ein!«, versichert der Bürgermeister. Er plädiert für mehr Empathie in der Gesellschaft und wagt den Selbstversuch. Ohne Berührungsängste setzt er sich in einen der Rollstühle und fährt über den Platz. Dadurch nachzuvollziehen, wie schwer es Menschen wirklich haben, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, hält er für schwierig: »Wenn man nur ein paar Meter fährt, ist das eher plakativ. Dabei fühle ich mich nicht wohl.«
Tammy Kayser, die mit ihrer behinderten Tochter Roxanne da ist, nutzt die Gelegenheit, um von aktuellen Problemen zu berichten: »Warum darf ein Bus, der Kinder mit Handicap zur Schule bringt, nicht auf dem Behindertenparkplatz parken?« Ilona Klein erklärt,  dass dieses Vorhaben an gesetzlichen Hindernissen scheitert. So wie es aussieht, erschwert die Bürokratie das Leben der Betroffenen zusätzlich. Ob man nicht eine Sondergenehmigung bekommen kann, will Tammy Kayser vom Bürgermeister wissen. Der verneint. »Der rechtliche Rahmen muss gewahrt bleiben.« Um Joachim Rodenkirch hat sich mittlerweile eine Menschentraube versammelt. Darunter ist auch Hermann-Josef Hauth vom Beirat für Menschen mit Behinderungen im Landkreis Bernkastel-Wittlich. Und er ist sauer. »Was nützt die Empathie der Gesellschaft, wenn sich in der Verwaltung nichts ändert?«, kritisiert er. »Die Leute können es nicht mehr hören. Sie bekommen Dinge gesagt, aber wenn sie Anliegen haben, werden sie nicht angehört!« Joachim Rodenkirch versucht zu beruhigen: »Wenn wir eine Sondergenehmigung geben, dann müssen wir das für jeden. Das können wir leider nicht.« Dafür hat auch Hermann-Josef Hauth Verständnis, kritisiert aber weiter, dass die Betroffenen von der Politik oft nicht gehört würden. Für Rodenkirch hat das eher mit menschlichem Miteinander zu tun als mit Politik. »Ich bin hier als Mensch und nicht in der politischen Diskussion. Als Mensch sage ich, dass wir Rücksicht nehmen müssen.«
Der Beigeordnete Albert Klein macht den Vorschlag, Tammy Kayser bei der Planung des barrierefreien Kirchenvorplatzes einzubinden. Die freut sich.
Mein Fazit: Öfter Mal die Perspektive zu wechseln täte uns wohl allen gut. Besonders denen, die Gesetze erlassen, mit denen andere dann leben müssen. . .

Infos

  • Im Rahmen der Synodenumsetzung findet die Erkundungsphase im Bistum statt. Die St. Raphael Caritas Alten- und Behindertenhilfe bringt sich in diesen Prozesss ein. So entstand das Projekt »Perspektivwechsel - erlebe Deine Stadt mit Handicap«.
  • www.st-raphael-cab.de
  • Link zum Video: https://www.facebook.com/wochenspiegel.eifel/videos/2099062056872810/
(ju).


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