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Aufrüttelnd: ADS-Theatergruppe zeigt "Corpus Delicti"

Die heutige Jugend ist faul, ignorant und nur noch digital aktiv? Für die Theatergruppe der Alfred Delp-Schule in Hargesheim gilt das nicht, findet Autor Christian Zuck. Er hat sich die Aufführung der Gruppe angesehen, die sich in diesem Jahr Juli Zehs Stück "Corpus Delicti" vorgenommen hatte.

"Was diese jungen Menschen auf der Bühne in der Aula der Alfred Delp-Schule geleistet haben, war außergewöhnlich", findet Autor Christian Zuck, der die Interpretation der Theatergruppe von Juli Zehs "Corpus Delicti" gesehen hat. Foto: Michael Schmitz

von Christian Zuck Kann man nach diesen drei Vorstellung noch behaupten, die heutige Jugend sei faul, ignorant und nur noch digital aktiv? Das ist wahrscheinlich wie mit dem gallischen Dorf. Solange Wenige gegen Faulheit, Ignoranz und soziale Kälte Widerstand leisten, kann man diese Frage guten Gewissens verneinen. Was diese jungen Menschen auf der Bühne in der Aula der Alfred Delp-Schule geleistet haben, war außergewöhnlich und das auf vielen Ebenen. An erster Stelle konnten die Textsicherheit und das schauspielerische Miteinander die zahlreichen Zuschauer in ihren Bann ziehen. Darüber hinaus waren die live vorgetragenen Stücke von Rio Reiser und "Ton Steine Scherben" ein genialer Schachzug, die herzerwärmend interpretiert und in ihrer den Menschen und dem Leben zugewandten Attitüde ein tolles Gegengewicht zu den totalitären Ansichten darstellten, denen sich die sogenannten "Methodisten" in Zehs Stück verschrieben hatten. Sogar die Schauspieler selbst wechselten zwischen Darstellung auf der Bühne und Gesangseinlage im "Orchestergraben". Innerlich keimte beim Zuschauenden zunächst die Frage auf: Was ist falsch daran, wie die Anhänger "der Methode", Gesundheit und Sicherheit für alle Menschen einzufordern? Doch die Forderung scheint nach längerer Betrachtung nicht das Menschenunwürdige zu sein, sondern die radikale Umsetzung in einem totalitären System, das sich als absolut ansieht und nur noch sich selbst schützt und nicht mehr die Menschen, wie man am Schicksal der Protagonistin Mia Holl sehen konnte, die großartig von Miriam Eyer und Anna-Marie Hernig gespielt wurde. Ihr Gegenspieler Heinrich Kramer, überzeugend gespielt von Valentin Hahn, argumentiert unter Zuhilfenahme von Rationalität und unbestreitbaren Fakten. Nämlich, dass in der Mitte unseres aktuellen Jahrhunderts, denn dort ist das Stück zeitlich angesiedelt, Krankheiten ausgerottet und Schmerz und körperliches Leiden der Vergangenheit angehören werden. Klingt doch traumhaft, oder? Man möchte dagegen halten: Aber zu welchem Preis? Der totalen Überwachung und der Aufgabe individueller Entfaltungsmöglichkeiten. Sogar der Wald ist in der Überzeugung der "Methodisten" als potenzieller Überträger von Keimen und Bakterien als Aufenthaltsort verboten. In einem Rio Reiser Text heißt es: "Ich will fliegen, tauchen, rasen, will nicht Angst, ich will Gefahr. Ich will leben, will mich fühlen..." Das ist doch der Keim der Jugend und des Lebens. Auch dieser Aspekt muss hervorgehoben werden und ist sogleich Appell: Menschen und vor allem die jungen müssen aufbegehren gegen das, was aus ihrer Sicht zwischen ihnen und ihrem persönlichen Glück steht. Oftmals sind es eben Rationalität oder systemische Vorgaben. Mia Holl kämpft gegen ein falsches Urteil an, das über ihren Bruder Moritz verhängt worden ist, der wild und frei durch Moritz Gatzke verkörpert wurde. Er wird durch eine DNA-Analyse des Mordes überführt, was sich letzten Endes aber als fehlerhaftes Urteil "der Methode" herausstellt. Ausgangspunkt ist Mias Gefühl, dass ihr Bruder das nicht getan haben kann. Mia Holl wird ebenfalls angeklagt, weil sie eine Gegnerin "der Methode" sei und Volkshetze betreibe. Ihr Verteidiger Lutz Rosentreter, gespielt von Stephen Roth, lässt sie am Ende im Stich und knickt vor dem totalitären System ein. Was sagt uns das über uns selbst? Vielleicht, dass wir nur Menschen sind und keinesfalls perfekt oder unfehlbar. Denn dann entzieht man vorschnellen Urteilen den Nährboden. Dieser junge Akteur hat in seinem Spielen schon erahnen lassen, dass er womöglich zu schwach ist, um bis zum Letzten Widerstand zu leisten. Das war eine authentische Darbietung. Durchdacht und konsequent wirkte die Inszenierung auch durch den Einsatz verschiedener Projektionen, die sowohl Atmosphäre als auch wechselnde Rahmen für Dialoge schufen. Darüber hinaus kam sie mit einem Minimum an Requisiten aus. So wurden beispielsweise Holzquader zur Gestaltung verschiedener Räumlichkeiten genutzt, die sich dem Publikum umgehend und wirkungsvoll erschlossen. Am Ende des Stückes wurden, untermalt von dem Lied "Menschenfresser", sowohl Portraits von vergangenen als auch aktuellen Diktatoren und Menschenverachtern gezeigt. Als Zuschauer empfand man, ob dieser Aktualität des Stückes, Bedrückung. Totalitäre Systeme, so der Appell der Theaterschaffenden, sind lange noch nicht überwunden und vor allem nicht das zugrundeliegende Gedankengut. Umso wichtiger ist es, dass dieses junge Ensemble, übrigens auch die sogenannten Bösewichter, Juristen und Mitläufer, die man für ihre Verbohrtheit wachrütteln will, in uns Fragen aufwerfen. Im Sinne von: In welcher Welt, in welcher Gesellschaft wollen wir leben? Oder: Wie viel ist uns unsere Freiheit wert? Gezeigt wurde also ein großes Plädoyer für Meinungsfreiheit und Ablehnung eines absoluten Wahrheitsanspruchs. Doch solange es solche jungen Menschen gibt, die sich reflektiert und beharrlich mit diesen Themen auseinandersetzen, muss Juli Zehs futuristische Dystopie selbige bleiben. Und so würdigte das gesamte Publikum die Leistung der Schauspieler und Musiker, der Regisseure Martin Müller und Christian Schmitz sowie des musikalischen Leiters Michael Faus mit stehenden Ovationen. Alle Akteure wussten zu überzeugen. Aber wenn dieser Text ein Interview wäre und die Frage würde gestellt, welcher Schauspieler am Ende diese Textes herausgehoben werden kann, so müsste die Antwort lauten: "Die Nebenrolle des Journalisten Würmer, dargestellt von David Grünewald, hat mich begeistern können."


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