Klaus Desinger

Diagnose: Long Covid (Video)

Bruchweiiler. Schwierigkeiten beim Treppensteigen, Konzentrationsstörungen, Herzrasen. Lina (16) aus Castrop-Rauxel wird in der Edelsteinklinik behandelt.

Bilder
Video
V.l.: Patientin Lina, Dr. Thomas Benner, Dr. Edith Waldeck.

V.l.: Patientin Lina, Dr. Thomas Benner, Dr. Edith Waldeck.

Foto: Klaus Desinger

Diagnose: Long Covid. »Ich war schnell aus der Puste«, erinnert sich die Teenagerin an ihre ersten Symptome. Kurzatmigkeit, Probleme beim Schulsport, Wortfindungsschwierigkeiten machen der Gymnasiastin aus NRW zu schaffen. Auch der Geruchs- und Geschmackssinn leidet etwas. Doch sie macht kleine Fortschritte. »Ihr Redefluss ist wieder strukturierter«, freut sich Stationsarzt Thomas Benner. Lina ist eine(s) von 1.400 Kindern und Jugendlichen, die jährlich in der Hunsrücker Rehabilitationsklinik bei Idar-Oberstein behandelt werden. Davon kamen bisher rund 50 mit der Diagnose ‚Long Covid‘. »Die meisten bleiben vier bis sechs Wochen und werden intensiv behandelt«, berichtet die Ärztliche Direktorin, Dr. Edith Waldeck. Patienten im Grundschul- und Jugendalter. »In den ersten drei Monaten nach der Akuterkrankung leiden sie unter massiven Erschöpfungssyndromen.

"Sie schaffen es gerade von der Couch zum Stuhl und zurück"

 »Sie schaffen es gerade von der Couch auf den Stuhl und zurück«, weiß die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Neuropädiatrie, Allergologie und Psychotherapie. Nicht nur Kinder mit Vorerkrankungen würden in der Klinik einchecken. Die meisten leiden unter Konzentrations- und Sprachstörungen. »Sie können die Schule nicht mehr besuchen, denn körperliche und geistige Verausgabung kann den Erschöpfungszustand verschlimmern. Oft haben sie keinen Appetit, leiden an Essstörungen - oder dem Gegenteil«, so die Direktorin. Die Hausärzte der jungen Patienten würden oft nichts feststellen. Nach MRT, EKG, EEG und Blutentnahme fänden sie keine greifbare Diagnose und schickten die Patienten in die Psychosomatik. »Man glaubt ihnen nicht«, wundert sich Waldeck. »Es ist eine organische Sache, die braucht Behandlung«, unterstreicht die Ärztliche Direktorin. Eltern finden mit ihren Sprösslingen meist über Medienberichte den Weg in die Edelsteinklinik. Bundesweit, von Kiel bis Füssen, reisen sie an. Im Hunsrück lernen die jungen Patienten dann ihre eigenen Belastungsgrenzen kennen. Eine Gratwanderung zwischen Über- und Unterforderung entlang der eigenen Energiereserven. Die Heilungsprognose bei Long Covid-Erkrankungen ist für Kinder und Jugendliche deutlich besser, als für Erwachsene.

Gratwanderung zwischen Über- und Unterforderung

Gleich zu Beginn des Aufenthalts werden individuell angepasste Therapiepläne für die jungen Patienten erstellt. Diese sind anfangs für alle gleich und werden stetig individuell angepasst. Seit anderthalb Jahren kommen inzwischen Long Covid-Patienten nach Bruchweiler. Unter dem Oberbegriff Pacing werden Behandlungsansätze aus dem Fatigue-Syndrom abgeleitet. Das Störungs-bild ist identisch. Bei dieser effektiven Methode werden Überan-strengungen vermieden, die die Symptome verschlimmern können. Resultat der Überforderung könnte ein »Crash« sein, dann müssen die Aktivitäten sofort reduziert werden. Ursachen für den Kollaps können psychisch oder emotional belastende Situationen sein. »Grenzerkennung und persönliche Leistungsschwelle sind über die Zeit unterschiedlich, so dass das Pacing ein stetiges Anpassen an die neuen Umstände erfordert«, erklärt Dr. Waldeck, die seit 2010 die Edelsteinklinik leitet. Die Kinder reisen inzwischen überwiegend in Dauerbegleitung an, meist mit der Mutter. Die Begleitpersonen werden in den Therapieprozess mit einbezogen und lernen so, mit der chronischen Er-krankung gut umzugehen. 46 Kindereinrichtungen gibt es in Deutschland, die in Bruchweiler ist eine mittelgroße. 150 Plätze für Jugendliche und Kids werden hier vorgehalten. Kostenträger ist bei 95 Prozent der Kinder die Deutsche Rentenversicherung (DRV). Träger der Edelsteinklinik ist der rheinland-pfälzische Ableger der DRV. Das Ziel der Maßnahmen ist, die Patienten wieder fit für das Schul- und Berufsleben zu machen. Vor Ort gehört der Schulunterricht, etwa zwei Stunden pro Tag, ebenso zum Tagesplan, wie die Therapien. Die intensive Behandlung dauert vier bis sechs Wochen. Da Long Covid beziehungsweise Post Covid noch recht neue Krankheitsbilder sind, sind die Mediziner darauf angewiesen, Wissen zu sammeln, sich an Studien zu beteiligen, zu recherchieren. So sind sie sich noch nicht ganz sicher, ob das Virus auch lange nach der akuten Erkrankung noch im Körper existent ist und immer weitere Entzündungsprozesse entstehen. Dahingehend gibt es Überlegungen, Blutwäsche, Sauerstoff- und Kältetherapien in die Behandlungsempfehlungen zu integrieren.

Patienten psychisches Schuldbewusstsein nehmen

Wichtig sei auch, den Patienten das psychische Schuldbewusstsein zu nehmen. Warum sind sie nicht mehr so belastbar wie früher oder wie Klassenkameraden und Freunde, denken die Kinder oft und suchen die Ursache bei sich selbst. Ein Vorteil der stationären Kinderrehabilitation ist, dass auch die Eltern untereinander kommunizieren und sich austauschen. Bei der Behandlung arbeiten Ergotherapeuten, Logopäden, Ärzte und Ernährungstherapeuten Hand in Hand. Auch eine medikamentöse Einstellung, etwa mit Stimulantien, könne im Einzelfall erfolgreich sein. »Die kleinen Kraftwerke der Zellen sind gestört, wir haben damit gute Erfahrungen gemacht«, konstatiert die Ärztliche Direktorin. Kommt ein neuer Patient, kann direkt auf die vorhandene Expertise zurückgegriffen werden. Auf die Frage, wie sich aktuell mit Covid Infizierte verhalten können, um das Long Covid-Risiko zu minimieren, gibt es noch keine Antworten. Dr. Waldeck ist sich aber sicher, dass nach wie vor der wichtigste Schutz die Impfung ist. »Die könnte Long Covid verhindern«, sagt die Medizinerin. Allerdings treten auch hier und dort Post Vac-Syndrome auf. Doch all‘ dies ist noch nicht ausreichend erforscht. Manche junge Patienten kommen auch wiederholt zur Behandlung in die Klinik. Linas Aufenthalt endet nun nach sechs Wochen. Das Mädchen wirkt ruhig, etwas in sich gekehrt und erzählt, es sei wieder gejoggt, aber danach hätte sie Muskelkater gehabt. Stationsarzt Benner kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, sieht er doch den Fortschritt. »Joggen wäre vor zwei Wochen undenkbar gewesen«, freut er sich. Und nicht nur beim Laufen, sondern bei der gesamten Behandlung sind es eben die kleinen Schritte, die Erfolg bringen. Geduld ist eine der obersten Tugenden und die ständig wachsende Daten- und Studienlage gibt doch Anlass zur Hoffnung, die belastende Long Covid-Situation für viele Patienten zu entschärfen. Auch, wenn es dauert.


Meistgelesen