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"Viele Familien haben ihre Belastungsgrenze erreicht"

Der WochenSpiegel sprach mit der Leiterin der Lebensberatungsstelle Cochem, Esther Thönnes, über die Auswirkungen des Coronavirus auf das Familienleben.
Esther Thönnes , Psychologin M.Sc und Leiterin der Lebensberatungsstelle Cochem. Foto: privat

Esther Thönnes , Psychologin M.Sc und Leiterin der Lebensberatungsstelle Cochem. Foto: privat

Die Corona-Pandemie hat viele Auswirkungen, insbesondere auch auf das Familienleben. Wie sind Ihre Erfahrungen der letzten Wochen? Regeln und Abläufe des alltäglichen Lebens und Zusammenlebens geben Sicherheit und Stabilität. Dies wurde durch die Corona-Pandemie und den daraus resultierenden Konsequenzen erschüttert und geriet aus dem Gleichgewicht. Viele Familien haben bereits ihre Belastungsgrenze erreicht, aber ALLE sind mindestens großen Herausforderungen gegenübergestellt. Wieder ein Gleichgewicht zu finden, indem sie neue Abläufe schaffen, sie Homeschooling, Homeoffice, Betreuung und Beschäftigung der Kinder sicherstellen und sich zudem mit eigenen Ängsten und Sorgen um die finanzielle Situation, die eigene Gesundheit und jene nahestehender Menschen beschäftigen ist unabdingbar. Während in dieser Krisenzeit von Familien, aber auch einzelnen Personen, viel abverlangt wird und häufig über Belastungsgrenzen hinausgegangen werden muss, birgt sie aber auch Chancen. Nach der ersten Phase der Organisation, in der ganz neue Strukturen und Tagesabläufe aufgestellt werden mussten, zeichnete sich in Familien auch ab, dass Entspannung und Entschleunigung erlebt werden kann. Das Hetzen von Termin zu Termin zu Termin fällt weg zugunsten von Kreativität und Phantasie. Kinder können zum Beispiel das freie Spiel in der Natur oder zuhause neu entdecken. Zudem ist es in manchen Familien ein Gewinn Mahlzeiten auf einmal mit Mama und Papa einnehmen zu können. Es gibt einen Zugewinn an gemeinsamen Zeiten in denen geredet, gelacht, gespielt, gebaut, gemalt und vieles mehr getan werden kann. Familien haben die Chance gemeinsam zu erleben eine schwierige Situation auszuhalten, was auch später als Zusammengehörigkeitsgefühl und starke Ressource zu verzeichnen bleibt. Gibt es durch Corona mehr Probleme in Familien oder Beziehungen? Bei der aktuellen Krise handelt es sich um einschränkende und bedrohliche Erfahrungen, die plötzlich und unerwartet aufgetreten sind, gegen die es wenig zufriedenstellende Maßnahmen gibt, denen man sich hilflos ausgeliefert sieht und vor denen man weder fliehen, noch sie bekämpfen kann. Sie erzeugen Angst und die akute Empfindung von Bedrohung, was eine traumatisierende Erfahrung darstellen kann. TraumatherapeutInnen beschreiben, dass Menschen im Zusammenhang mit traumatisierenden Erfahrungen reflexartig bestimmte Bekämpfungsmöglichkeiten zur Verfügung haben: - Flucht (z.B. in die Arbeit; den Sport), - Angriff (Erhöhung des Aggressionspotentials, kann aber auch als Energieschub genutzt werden um z.B. zu helfen), - Erstarrung (z.B. "so tun als wäre nichts", Bedrohung ignorieren). Diese 'normalen Reaktionen auf eine unnormale Situation' bedeuten für Familien und zwischenmenschliche Beziehungen neue Schwierigkeiten, die den Umgang miteinander belasten können. Für Eltern gilt es eine Balance zu finden, die eigenen Reaktionen zu erkennen und die daraus entstehende Spannung abzubauen und gleichzeitig ihre Kinder in deren Reaktionen zu begleiten und ihnen zur Seite zu stehen. Gerade in Familien, in denen es bereits vor der Krise häufig Spannungen gab, einzelne Familienmitglieder und deren Bedürfnisse übersehen wurden, kommt es nun, durch das vermehrte "Aufeinanderhocken" zu noch größeren Schwierigkeiten. Konflikten kann schwerer aus dem Weg gegangen werden und eigene Bewältigungsmöglichkeiten oder Ressourcen wie z.B. das wöchentliche Fußballtraining, das Treffen mit Freunden usw. fällt weg. Laut dem Weißen Ring gab es jüngst deutlich mehr Fälle von häuslicher Gewalt. Überrascht Sie das? Nein. Wie bereits beschrieben führen die eigenen Emotionen in einer solchen Krisensituation bzw. traumatischen Situation bei geringer Regulations- und Reflektionsfähigkeit zu Wut, Frust und Aggression sowie Überforderungsgefühlen. Diese Reaktionen finden durch den "engen Raum", in denen sich Familien bewegen keinen Spannungsabbau und führen bei ungünstigen Bewältigungsstrategien zu Gewalt. Hinzu kommt eine Perspektivlosigkeit in Bezug auf die Beendigung der Situation. Regulierungsmöglichkeiten, sowie soziale Kontrollinstitutionen wie Kita und Schule fallen weg. Häusliche Gewalt nimmt damit qualitativ und quantitativ zu. In diesem Zusammenhang möchten wir für betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf folgende telefonische und direkte Unterstützungsmöglichkeiten bei häuslicher Gewalt hinweisen: "Nummer gegen Kummer" für Kinder und Jugendliche: 116111 "Nummer gegen Kummer" für Eltern: 0800 111 0550. Was können Familien dagegen tun? Wie "überstehen" Eltern am besten die Corona-Krise, die durch die Schließung der Schulen und Kitas ja eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung für Ihre Kinder sicherstellen müssen? Sollte man auch feste Zeiten für bestimmte Dinge festlegen? Erwachsene sollten sowohl für die eigene Stressbewältigung sorgen, als auch gemeinsam mit ihren Kindern nach Möglichkeiten derer Stressbewältigung suchen. Innerhalb einer gemeinsam erarbeiteten Tagesstruktur (z.B. im Rahmen einer Familienkonferenz) können Familienzeiten und Zeiten für jeden einzelnen besprochen werden. Gemeinsame Mahlzeiten, Fernsehzeiten, Sporteinheiten, Kreativzeiten können konkret besprochen und in die Tagesstruktur aufgenommen werden. Außerdem sind altersangemessene Aufgabenverteilungen z.B. im Haushalt, sowie Lern- und Arbeitszeiten wichtig. Eingeplante Ruhephasen, in denen Kinder für sich spielen oder Mittagsschlaf- ruhe halten sind ebenfalls täglich einzubauen und unabdingbar. Kinder und auch Erwachsene vermissen häufig ihre Freunde und benötigen den Austausch mit Gleichaltrigen. Hier können Alternativen zum realen Kontakt gesucht und zum Beispiel durch Videotelefonie ermöglicht werden. Die Planung und Umsetzung fester Tagesabläufe gibt Handlungskompetenz und ermöglicht Sicherheit in der Unsicherheit. Eltern und Kinder können in einem strukturellen Rahmen Selbstwirksamkeitsempfinden zurückerlangen, womit eine erste Stabilisierung gegenüber der oben erwähnten mehr oder weniger traumatisierenden Erfahrungen gewährleistet ist. Wie erklärt man etwa den Enkelkindern die Trennung von den Großeltern durch Corona? Grundsätzlich ist es wichtig mit Kindern über die Auswirkungen des Coronavirus und die Gefahr vor allem für ältere Menschen kindgerecht zu sprechen. Hierzu können Videos (es gibt eine Vielzahl im Internet) oder Bilder genutzt werden. Alternativer Kontakt durch ausreichenden räumlichen Abstand oder das Telefon um die Beziehung zu den Großeltern aufrecht zu erhalten ist wichtig. Es folgen allgemeine Hinweise, die auch auf der Seite der Lebensberatung zu finden sind: Sprechen Sie mit Ihrem Kind über das Corona-Virus und hören Sie ihm zu Sorgen Sie für ein sicheres und entspanntes Umfeld, wenn Sie mit Ihrem Kind sprechen. Dann fällt es ihm leichter, über seine Gefühle zu sprechen. Zeigen Sie, dass Sie diese ernst nehmen und dass es ganz normal ist, sich vor Dingen zu fürchten. Finden Sie heraus, wie viel Ihr Kind bereits weiß und greifen Sie dies auf. Malen, Geschichten erzählen und andere spielerische Aktivitäten können dabei helfen, das ernste Thema anzusprechen. Erklären Sie Ihrem Kind auf kindgerechte Weise, was gerade passiert Kinder haben viele Fragen. Sie wollen verstehen, was in der Welt vor sich geht. Wenn Sie als Eltern manche Frage nicht beantworten können, ist das nicht schlimm! Gehen Sie stattdessen gemeinsam mit Ihrem Kind auf die Suche nach Antworten. Das stärkt das Gefühl der Selbstwirksamkeit bei Ihnen und Ihrem Kind. Nutzen Sie seriöse Quellen und vermeiden Sie angstbesetzte Worte wie "Panik" oder "Pandemie". Zeigen Sie Ihrem Kind, was es tun kann, um sich zu schützen Kinder und Erwachsene können sich gut vor der Ansteckung schützen, wenn sie bestimmte Hygieneregeln wie regelmäßiges Händewaschen befolgen! Zeigen Sie Ihrem Kind, wie man beim Husten oder Niesen das Gesicht mit dem Ellbogen verdeckt. Bitten Sie Ihr Kind auch, Ihnen zu sagen, wenn es sich krank und fiebrig fühlt oder andere Anzeichen einer Erkrankung hat. Beruhigen Sie Ihr Kind Da die Nachrichten über die Krise allgegenwärtig sind, kann Ihr Kind zu der Überzeugung gelangen, dass es selbst und seine wichtigsten Bezugspersonen in Gefahr sind. Nehmen Sie sich in einem solchem Fall möglichst viel Zeit für Ihr Kind. Eingespielte Tagesabläufe und Rituale (z.B. vor dem Schlafengehen) sind jetzt besonders wichtig. Erklären Sie Ihrem Kind, dass die allermeisten Menschen, die sich angesteckt haben, nicht schwer krank werden. Wenn Ihr Kind zuhause bleiben muss, weil die Kita oder die Schule geschlossen ist, erklären Sie ihm, warum es so wichtig ist, dass man sich im Moment an diese Regeln halten muss, damit alle geschützt sind. Sprechen Sie mit Ihrem Kind über positive Seiten der Krise In Krisenzeiten überwiegen die "schlechten Nachrichten". Aber es gibt immer auch Gelingendes und Mut machendes zu berichten. Menschen arbeiten, um die Versorgung anderer Menschen zu gewährleisten. Ärztliches Personal und Forschende setzen sich dafür ein, die Ausbreitung der Krankheit zu verlangsamen oder eine Behandlungsmöglichkeit zu entwickeln. Erzählen Sie Ihrem Kind von hilfsbereiten Menschen. Das gibt ihm Hoffnung, dass die Krise bewältigt werden kann. Achten Sie auf sich selbst Kinder sind sehr feinfühlig für die Verunsicherung und Sorge ihrer Eltern. Sie bemerken sofort, wenn Sie nicht die Wahrheit sagen. Sie können Ihrem Kind nur dann gut helfen, wenn es auch Ihnen gut geht. Wenn Sie sich ängstlich oder verunsichert fühlen, nehmen Sie sich Zeit für sich selbst und wenden Sie sich an andere Familienmitglieder, Freunde oder an die Beratungsstelle in Ihrer Nähe. Entspannung und Erholung sind wichtig! Die Fragen stellte Mario Zender.


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