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Michael Nielen

Der Weihnachtsbaum

Eine Weihnachtsgeschichte von Lisa Sahin

Lisa Sahin hat für den WochenSpiegel eine sehr vergnügliche Weihnachtsgeschichte geschrieben.

Lisa Sahin hat für den WochenSpiegel eine sehr vergnügliche Weihnachtsgeschichte geschrieben.

Bild: Privat

Seit 1977, dem Jahr, in dem Walter und seine Frau in das Haus eingezogen waren, das Walter für sie gebaut hatte, ging Walter kurz vor Weihnachten in den Wald und fällte dort einen Weihnachtsbaum.

Es gibt bei Gott bessere Dinge, die man an einem grauen Dezembertag tun kann, als sich fluchend mit einem Dreimeterbaum durchs Unterholz zu schlagen, aber so war es nunmal. Und Dinge, die so sind, wie sie sind, stellte Walter nicht in Frage. Er hatte immer angenommen, seine Frau respektiert ihn und diese Tradition, aber dann war sie ihm heimtückisch in den Rücken gefallen.

Als Walter sich am Sonntag vor Weihnachten im Flur seine schweren Waldstiefel schnürte, bereit losziehen, da stand plötzlich Julius vor ihm. Dieser unleidliche Taugenichts von Schwiegersohn, der seine Tochter erst dazu gebracht hatte, ihr Heimatdorf in der Eifel für eine Doppelhaushälfte in Köln zu verlassen und dann seinen Enkelkindern unaussprechliche Namen gegeben hatte. Walter nahm ihm beides übel.

Das hätte er ihn auch gerne mal wieder merken lassen, aber hinter Julius lugten Walters Frau, Tochter und die beiden Plagen aus der Tür zur Küche. „Wir backen Plätzchen“, krähte José Ramon. „Und ihr kriegt nur welche, wenn ihr den größten Tannenbaum der Welt mitbringt“, ergänzte Mâlou. „Ganz schön frech“, tadelte Walters Frau, tätschelte Mâlou aber nur gutmütig den blonden Lockenkopf. Dann schaute sie auf und hielt Walters Blick einen Moment gefangen. Sie kniff warnend die Augen zusammen. Walter hatte schon verstanden und seine Frau hatte verstanden, dass er verstanden hatte, also ließ sie Peggy aus der Küche zu den beiden Männern in den Flur.

Die schwanzwedelnde Hündin hielt ihre Leine im Maul, die Julius ihr nach einigem Ringen entwendete und an ihrem Halsband befestigte. „Auf gehts“, sagte er voller Vorfreude und winkte den Kindern zu. „Ich bin bereit.“

„Soso“, sagte Water und ließ seinen Blick über Julius schneeweißen Sportschuhe zu dem beigen Designerwintermantel wandern.

Sobald Walter die Tür nach draußen öffnete, sprang Peggy auf und zog Julius nach draußen in die Kälte. Es war ein Dezembertag wie aus dem Buche. Neblig, kalt und ungemütlich. Über dem Wald hingen dichte Wolken, die die Bäume in weiß tauchten und alle Geräusche schluckten. Walter genoss solche Tage insgeheim. Niemand wagte sich vor die Tür und er hatte die ganze Welt für sich allein. Bei langen Spaziergängen mit Peggy zeigte sich dieser Winterwald in all seiner Schönheit, mit vor Frost steif gefrorenen Halmen und dem gurgelnden Bach, der sich durch die Felder wand.

„Was für ein Mistwetter“, Julius zog bibbernd sein Mäntelchen enger um die Schulter.

Walter gab nur ein Grunzen von sich und verschwand in seiner Werkstatt, um die Motorsäge zu holen.

Julius Augen leuchteten auf, als er sie sah. Dasselbe Leuchten, wie das in den Augen eines kleinen Jungen, der eine Spielzeugsäge unterm Weihnachtsbaum findet.

„Ist das eine Bosch?“, fragte er auch sogleich, als sie zusammen die Straße zum Wald hinauf stapften. „Oder eine Makita?“

„Stil“, erwiderte Walter. Jeder Tölpel wusste doch wohl, dass das die einzig wahre Marke war, wenn es um Motorsägen ging.

„Na klar, na klar“, antwortete Julius eifrig. „Hast du denn schon einen Baum im Blick? Also ich dachte an eine Douglasie oder eine Blautanne. Die halten die Nadeln lange, da muss man nicht so viel staubsaugen...“

Walter drehte sich mit zusammengekniffenen Augenbrauen um. „Blautanne?“, fragte er misstrauisch. „Was soll das denn sein? Wir fällen natürlich eine Fichte. Wie immer.“

„Wie du meinst“, pflichtete Julius ihm sogleich bei. „Du bist da der Experte.“

Ihm Honig ums Maul schmieren, das war, was der Jungspund hier versuchte. Das rührte in Walter natürlich überhaupt nichts. Er trat ein bisschen Unterholz platt und bahnte sich so einen Weg in den Wald hinein. Julius trippelte in seinen weißen Schühchen hinterher.

„Lass Peggy von der Leine“, grummelte Walter. „Sie muss laufen.“

Peggy spitze aufgeregt ihre Ohren und wedelte mit dem Schwanz. Im Gegensatz zu Julius verstand sie Walter ganz genau. Denn der tat einfach nicht, was Walter ihm sagte.

„Ich kann sie doch im Wald nicht von der Leine lassen!“, sagte Julius schockiert. „Was ist, wenn sie ein Rehkitz anfällt?“ Walter schaute auf den Dackel hinab, den ein Rehkitz sich locker zum Frühstück gönnen könnte. „Wohl kaum.“

„Und was, wenn sie sich verletzt?“ „Tut sie nicht.“ „Das ist bestimmt verboten.“

„Mach schon die Leine los.“

Kopfschüttelnd leinte Julius die Hündin ab und sie sprang freudig durchs Gebüsch davon und war verschwunden. Julius schaute ihr nach, als glaubte er, sie zum letzten Mal gesehen zu haben. Walter ignorierte das und führte seinen Schwiegersohn durch den Wald, den er kannte wie seine Westentasche. Vorbei an der umgefallenen Buche, an der sie auf ein Eichhörnchen trafen und an einem dünnen Wasserrinnsal entlang, dass weiter unten im Tal in den Bach mündete. Er hatte natürlich schon vor Monaten den Baum ausgewählt, den er zu ihrem Weihnachtsbaum auserkoren hatte. Es war gar nicht so einfach den perfekten Baum zu finden, wie man denken mochte. Da ging es um Größe, einen graden Stamm, den Winkel der Äste und die Anzahl und Verteilung der Äste, Farbe der Nadeln, Anzahl der Zapfen. Über die Jahre hinweg hatte Walter jedoch eine Art Erfolgsformel für den idealen Weihnachtsbaum entwickelt. Die Leuten suchten immer auf Augenhöhe nach Perfektion, aber Walter hatte gelernt den Blick nach oben zu richten. Nach Höherem zu streben sozusagen. Was im Klartext hieß, dass er eine 20 Meter Fichte fällte um sich dann die Spitze davon abzusägen und als Weihnachtsbaum zu verwenden.

„Das ist er“, sagte Walter und blieb unter dem Baum stehen, den er ins Auge gefasst hatte.

„Wo?“, fragte Julius und schaute sich suchend um. Sie standen in einem Waldstück, dass von hohen Fichten dominiert wurde und es an jüngeren Bäumen fehlte. Logisch also, dass Julius den Baum nicht fand, er suchte schließlich nur auf Augenhöhe.

Walter klopfte mit den Fingerknöcheln gegen den rauen Stamm der Fichte und Julius riss erschrocken die Augen auf, als er verstand.

„Du kannst doch nicht diesen riesigen Baum fällen. Abgesehen davon, dass das verboten ist, wie willst du das machen? Das Ding fällt uns doch auf den Kopf!“

„Unsinn“, murmelte Walter und ließ bereits den Blick am Stamm entlang wandern um den perfekten Winkel auszuloten, um die Säge anzusetzen. „Lass mich nur machen. Du kannst ja inzwischen etwas Moos für die Krippe sammeln.“

„Das ist eine ökologische Katastrophe“, Julius stellte sich abwehrend vor den Baum. „Dieser Fotosynthese betreibender Baum beschützt Mâlou und José Ramon davor, in einer durch den Klimawandel zerstörten Welt zu leben.“

Walter konnte dem Baum keinerlei solchen Fähigkeiten abgewinnen. „Jetzt geh schon zur Seite.“

Julius gab wie erwartet kampflos auf und stellte sich hinter Walter. Dieser machte sich daran, die Motorsäge anzuwerfen. Sie hustete ein bisschen, gab ein bemitleidenswertes Brummen von sich, um dann wieder auszugehen. Dieses verschlissene, alte Ding. Walter stellte sie auf einem bemoosten Baumstumpf ab und schraubte den Deckel des Öltanks auf. „Halt mal.“

Julius nahm den Deckel mit spitzen Fingern, was aber nicht verhindern konnte, dass etwas Öl auf seinen beigen Mantel tropfte.

Walter drehte auch noch an allen anderen Knöpfen und Schaltern der Säge etwas herum, bevor er den Tankdeckel wieder anschraubte. Er zog an der Anlasserschnur und diesmal gab die Säge erst gar keinen Mucks von sich. Julius seufzte und Walter grummelte ein paar unaussprechliche Schimpfwörter von sich.

Die beiden Männer standen schweigend unter den Bäumen und bedachten die Situation. Ein kalter Windhauch brachte die braunen Blätter unter ihren Füßen zum rascheln. Ansonsten war es still. So still, dass es einfach war, die sich nähernden Schritte im Unterholz zu hören.

Julius und Walter schauten sich um. Julius starrte ängstlich in die falsche Richtung, während, Walter bereits genau die Stelle ins Auge gefasst hatte, an der der Neuankömmling zwischen einigen Gebüschen auftauchte. Der Neuankömmling war eine junge Frau und sie führte Peggy an einer provisorischen Leine, die sehr nach einer der blauen Kordeln aussah, womit normalerweise Strohballen zusammen gehalten wurden. Walter kannte die Frau nicht, aber er konnte sie ab der ersten Sekunde an nicht leiden. Was nicht nur daran lag, dass sie seine Hündin auf so schmachvolle Weise vorführte, sondern auch an dem Wappen, das auf ihrer grünen Jacke prangte. Wappen bedeutete Behörde und Behörde bedeutete im Normalfall Ärger.

„Da ist sie ja“, sagte Julius erleichtert und bückte sich, um Peggy den Kopf zu streicheln.

„Also ist das ihr Hund?“, fragte die Frau ohne Begrüßung und sah über Julius hinweg direkt zu Walter. Er war schließlich auch derjenige, der die Motorsäge noch immer in der Hand hielt.

„Ja, das ist mein Hund.“

Die Frau hielt ihm die provisorische Leine hin. „Sie dürfen ihren Hund nicht einfach frei im Wald herum laufen lassen. Er könnte Wild anfallen.“

Julius warf Walter einen vielsagenden Blick zu, den dieser völlig ignorierte. „Wer sagt das?“,wollte er stattdessen von der Frau wissen.

Sie tippte sich auf das Wappen auf ihrer Brust. „Das Forstamt.“

„Soso.“

„Danke, dass Sie Peggy zurück gebracht haben“, unterbrach Julius sehr freundlich und stellte sich so vor Walter, dass der Blick der Försterin nicht mehr direkt auf die Motorsäge fiel. „Wir werden Peggy ab jetzt immer anleinen.“

Die Frau beugte sich einfach ein Stück nach rechts, sodass sie sie trotzdem sah. „Was hatten Sie denn mit der Säge vor?“

„Gar nichts“, grummelte Walter und trat vorsichtshalber einen unauffälligen Schritt von seinem potentiellen Weihnachtsbaum zurück.

Die Frau verschränkte die Arme. „Tatsächlich? Es sieht eher so aus, als wollten Sie einen Baum fällen. Warum sollte man sonst mit einer Säge durch den Wald laufen?“ Wie es sich für eine Beamtin gehörte, war sie pampig. Und schlecht gelaunt sah sie aus, da konnte man doch glatt das Fürchten kriegen.

„Das kann ich Ihnen sagen“, mischte sich Julius freudestrahlend ein, als Walter bereits zu einer schnippischen Entgegnung ansetzte. Von so einem jungen Hüpfer musste er sich gar nichts sagen lassen. Julius legte Walter eine Hand auf die Schulter. „Das hier ist Walter, müssen Sie wissen. Und wie Sie vielleicht schon gemerkt haben, ist er nicht so gut mit Worten. Oder Menschen. Aber er will seiner Familie zu Weihnachten eine Freude machen und da haben wir uns gedacht, wir machen einen lustigen Kalender mit Fotos von ihm, wie er weihnachtliche Dinge tut, Kakao mit kleinen Marshmellows trinken, Mützen häkeln oder eben einen Weihnachtsbaum fällen. Aber alles natürlich nur fake, schauen Sie sich doch nur mal die Säge an, das alte Ding funktioniert ja nicht mal. Genau so wenig wie dieser alte Racker hier, mit seinen zittrigen Händen kriegt er die Säge ja kaum hochgehoben“, Julius klopfte Walter auf die Schulter und Walter hatte das leise Gefühl, dass Julius diese Lüge etwas zu sehr auskostete. Aber der war noch gar nicht fertig. „Außerdem würden wir nie einen Baum fällen, was das für Auswirkungen aufs Klima hat...“, er schüttelte bedauernd den Kopf und stieß Walter mit dem Fuß an, der wider Willen mit dem Kopf nickte.

Die Försterin runzelte misstrauisch die Stirn.

Julius zog voller Elan sein Handy aus der Manteltasche. „Sozusagen ist es perfekt, dass Sie aufgetaucht sind. Ein Foto mit einer echten Försterin, das wäre das absolute Highlight für den Kalender!“

Jetzt sah die Försterin alarmiert aus. „Ach, nein, nein, das...“

„Keine Widerrede. Sie nehmen die Säge, Walter nimmt den Hund und dann stellen Sie sich hier direkt neben diese prächtige Fichte“, er deutete auf Walters immer weniger potentiellen Weihnachtsbaum.

„Aber das geht doch nicht“, sie lachte und zum ersten Mal verschwand der schlecht gelaunte Ausdruck von ihrem Gesicht.

„Doch, doch“, Julius hob Peggy hoch, deren matchverschmierte Pfoten seinem Mantel ein paar weitere Flecken verpassten, bevor er sie Walter in die Arme drücken konnte. „Die Kinder würden sich riesig freuen.“

Die Frau gab ein ungläubiges Schnauben von sich, hob aber die Motorsäge hoch und betrachtete sie einen Moment. „Der Luftfilter muss gereinigt werden“, erklärte sie, während sie sich neben Walter positionierte. „Dann sollte das Schätzchen wieder funktionieren.“

Ein Funken Sympathie für die Frau keimte in Walter auf und genau als dieser Funken seine Miene für einen Moment auftaute, knipste Julius das Foto.

„Na dann“, sagte die Frau und drückte Julius die Säge in die Hand. „Ich schlage trotzdem vor, dass Sie sich mit ihrer Säge vom Wald fern halten. Egal, ob sie nur Fotos machen wollen“, sie schaute Walter direkt in die Augen. „Nicht, dass noch jemand auf falsche Ideen kommt, oder?“

„Richtig“, murrte Walter durch zusammengekniffene Zähne.

„Sehr schön“, Julius winkte der Försterin freudig zu. Walter fragt sich, wie so viel Freude in so einen schlaksigen Körper passte. „Vielen Dank, und schöne Weihnachten!“

„Halten Sie den Hund an der Leine“, rief die Försterin ihnen nach, während Walter und Julius sich einen Weg durchs Unterholz bahnten.

Sie gingen eine Weile schweigend durch den Winterwald und Walter verdaute die Schmach, die über ihn gebracht worden war. Julius hingegen pfiff vergnügt und genoss die Schmach, die er über seinen Schwiegervater gebracht hatte.

Die beiden Männer durchquerten einen Streifen mit hohem, trockenen Gras und fanden sich auf der Straße wieder.

„Und?“, wollte Walter wissen, während sie langsam zurück in Richtung Haus gingen. „Wo kriegen wir jetzt einen Weihnachtsbaum her, Herr Lügenbaron?“

Julius zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Da wo jeder andere ihn auch herkriegt. Von einem Tannenbaumverkauf.“

„Nein.“

„Doch. Unsere Frauen müssen das ja nicht unbedingt wissen.“ „Du bist ein ziemlicher Lügner.“ Aber an der Argumentation war schon was dran.

„Ich bin Versicherungsmakler“, rechtfertigte sich Julius und versuchte die Schlammflecken auf seinen Schuhen im Moos am Wegesrand loszuwerden. „Und außerdem hat dich mein Talent gerade davor bewahrt, von einer Försterin verhaftet zu werden.“ Julius sah ziemlich zufrieden aus, für einen Mann, der nicht nur seine Schuhe sondern auch seinen Mantel unwiederbringlich ruiniert hatte.

Walter seufzte schwer und ergab sich in sein Schicksal. Wenn sie die Sache schnell über die Bühne brachten, musste er nie wieder daran denken und hatte vor dem Mittagessen vielleicht noch Zeit, den Luftfilter der Säge zu reinigen.

Und so kam es, dass sie alle am heiligen Abend unter einer festlich geschmückten Blautanne saßen, für die Walter hatte 52 Euro blechen müssen und seine Frau ein Geschenk von Julius auspackte. Es war ein gerahmtes Foto, dass ihren Mann mit einer netten Försterin zeigte, die ihm doch tatsächlich dabei geholfen zu haben schien, diesen wunderschönen Weihnachtsbaum zu beschaffen.

Die Autorin Lisa Sahin

  • Lisa Sahin wurde 1999 in der Eifel geboren und wuchs in Mülheim auf. Während einem Jahr als Au Pair in Amerika besuchte sie Schreibkurse an der Berkeley Universität und konnte erste Kurzgeschichten sowohl in englischer als auch deutscher Sprache veröffentlichen. Darunter befand sich auch das Essay über eine Eifeler Mainacht, welches der Schleidener WochenSpiegel ebenfalls veröffentlichte (https://www.wochenspiegellive.de/schleiden/artikel/eine-literarische-mainacht) Backen ist ihre zweite große Leidenschaft, sodass sie inzwischen als Konditorin arbeitet. In ihrer Freizeit reist sie gerne und verbringt Zeit in der Natur.

 


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