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Frederik Scholl

"Tell" gründlich und erfrischend anders

Blankenheim. 40 Gäste erlebten bei der Lit.Eifel in der Gesamtschule Eifel anspruchsvolle Lektüre von Autor Joachim B. Schmidt.

Joachim B. Schmidt (li.) las in der Blankenheimer Gesamtschule.

Joachim B. Schmidt (li.) las in der Blankenheimer Gesamtschule.

Bild: Lit.Eifel/Joachim Starke

Schillers "Tell" wurde im Aufstand der Eidgenossen gegen die Habsburger Fremdherrschaft geboren. Und ein Heldenepos kommt ohne einen solchen Helden - eben dem Tell - nicht aus. Was Blankenheims Bürgermeisterin Jennifer Meuren zu Beginn bei ihrer Begrüßung wünschte, wurde Wirklichkeit: 40 Gäste erlebten bei der Lit.Eifel in der Gesamtschule Eifel anspruchsvolle Lektüre von einem überzeugenden Autor.

Der in Graubünden geborene Joachim B. Schmidt hat in seinem Buch den Tell gründlich modernisiert und dabei kompromisslos mit dem bekannten Heldennarrativ gebrochen. Schmidt verwandelt das Ur-Schweizer Epos mit großer Erzähldynamik: Die Figuren haben ganz andere Profile als bei Schiller. Aus ihren Empfindungen und ihrem Gefühlsleben heraus bewerten und erzählen sie die Ereignisse, etwa Sohn Walter, die Großmutter, manchmal Tell selbst. Das macht facettenreiche Charaktermerkmale und Entwicklungen sichtbar. Zwanzig Protagonisten berichten in vielen knappen Aussagen, was sie fühlen und sehen; Tell selbst äußert sich erst nach der berühmten Episode mit dem Apfelschuss.

Auch in der Darstellung der Frauen schildert Schmidt die tatsächliche Welt. Nicht Tell vertreibt mit seiner Armbrust einen Bären, sondern die mutige Mutter: "Plötzlich fliegt die Haustür neben mir auf. Meine Mutter kommt im Nachthemd ins Freie gestürmt und marschiert beherzt auf den Bären zu. In jeder Hand hält sie einen Kochtopf, und diese Töpfe schlägt sie nun so fest aneinander, dass sogar ich zusammenzucke."

Das Leben in der Schweizer Bergwelt erklärt bei Schmidt die harten Lebensbedingungen und hat Auswirkungen auf Mentalität und Emotionalität der Menschen. Die Titelfigur wirkt zerrissen, ängstlich und schuldbeladen, gelegentlich nachdenklich. Er ist kein Freiheitskämpfer, sondern eher ein "Normalo", der vom Eigennutz geleitet ist und dem in seiner Verschlossenheit Schicksalsschläge erheblich zu schaffen machen. Schmidt skizziert auch die Schwankungen und Widersprüchlichkeiten bekannter Figuren, etwa beim Landvogt Gessler. Hier ist dieser nicht böse und sadistisch: "Die Brutalität der Männer stößt mich ab!" Das Treiben seiner Soldaten nimmt er hin, möchte aber mit Details der Gräueltaten verschont werden.

Joachim B. Schmidts Lesungsblöcke vermittelten einen überzeugenden Einblick in seinen rasanten Erzählstil. Und mit ihren vertiefenden Nachfragen brachte Moderatorin Claudia Hoffmann den Autor dazu, Beweggründe für seine Erzählweise, Parallelen zu seiner zweiten Heimat Island und Informationen über seine Arbeitsweise zu offenbaren. Abschließend betonte Schmidt, dass er Protagonisten und Lebenswelten vielschichtig darstellen wolle. Sein Tell polarisiere nicht zwischen ausschließlich gut oder schlecht, sondern entspreche der Wirklichkeit: Bunt. So vielfarbig, dass auch die sogenannte "Wahrheit" diskursbedürftig werde.


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