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Claudia Neumann

»Unglaublich, dass dies im 21. Jahrhundert in Europa möglich ist«

Sascha und Mykola leben in der Region Trier, haben aber familiäre und freundschaftliche Beziehungen in die Ukraine – und verschiedene Perspektiven auf den Krieg. Wir haben mit beiden gesprochen.

Interview mit Mykola
 
Mykola (Namen geändert , Anm. d. Red.)  ist ein international tätiger Geschäftsmann mit Hauptsitz in der Region Saar-Lor-Lux, Anfang 40, Familienvater, geboren in Kiew, mit 16 nach Deutschland gekommen; er selbst bezeichnet sich als "pazifistischen Kosmopoliten", der aber zur Waffe greifen würde, wenn sein Land und sein Eigentum zu Unrecht angegriffen würden; er will anonym bleiben, vor allem, um seine Familie zu schützen; er hatte noch kurz vor dem Interview zahlreiche Telefonate geführt, um Ukrainern, die auf der Flucht sind oder ihre Städte verteidigen, durch humanitäre Hilfe zu unterstützen; er steht auch kurz davor selbst an die polnische Grenze zu fahren, um einigen dieser Menschen in seinem Haus eine Unterkunft zu gewähren. Er spricht flüssig und konzentriert, dabei bemüht, sich verständlich für mich auszudrücken (Deutsch spricht er perfekt), wenn auch die Dringlichkeit seiner Worte deutlich zu spüren ist. Ich muss ihn hin- und wieder unterbrechen und nachfragen, sonst würde er wohl mehrere Stunden am Stück sprechen, so sehr liegt sein Herz auf der Zunge.
 
Wer bist Du, als was siehst Du Dich, wo bist Du zu Hause, was bedeutet Heimat für Dich?
Ich bin wie Selenskyj jüdischer Abstammung und im Rahmen eines Aufnahmeprogramms 1996 mit 16 Jahren und der ganzen Familie nach Deutschland gekommen. Meine Mutter ist gebürtige Moskauerin und mein Vater in vierter Generation Kiewer. Weil beide Musiker waren und Freunde aus fast allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion hatten, bin ich sehr multikulturell geprägt worden. Deswegen würde ich mich heute - auch wegen meines internationalen Berufs - als einen Weltbürger bezeichnen. Ich bin allerdings wie viele vor allem in der Hauptstadt, Osten und Süden der Ukraine geborene Ukrainer meiner Generation noch überwiegend mit der russischen Sprache, aber auch mit dem Bewusstsein Teil des riesigen Sowjetreichs zu sein, groß geworden. Trotzdem spreche ich auch fließend Ukrainisch und kenne die Geschichte und Kultur der Ukraine, welche entgegen der Behauptungen von Putin nicht erst mit Lenin beginnt sondern mehr als zehn Jahrzehnte zählt https://www.dw.com/de/faktencheck-putins-blick-auf-die-geschichte-der-ukraine/a-60895811 .
 
Wie würdest Du die Entwicklung der letzten Jahre in der Ukraine seit dem Maidan-Aufstand 2014 aus Deiner Sicht beschreiben auch in Hinblick auf Putins Politikstil?
Die Ukraine ist ähnlich wie Belgien in zwei Sprach- und Kulturregionen aufgeteilt und die Trennungslinie verläuft ungefähr entlang des Flusses Dnepr. Die westliche Hemisphäre ist ukrainisch, also westlich und teilweise sogar katholisch in der Prägung und die rechte eher nach Russland orientiert. Das ist sowohl in der Architektur wie auch an anderen kulturellen Ausdrucksformen abzulesen. Die russische Sprache und die lange gemeinsame Zeit im ehemaligen Sowjetreich war da wie ein gesellschaftlicher Kitt, der aber bereits durch die erste "orangene" Maidan-Revolution in 2004 und der sich danach einsetzenden und wachsenden Demokratisierung anfing sich immer mehr aufzulösen. Aus meiner Sicht ist daher die Denk- und Handlungsweise von Putin, der im Prinzip zurück will zu der alten territorialen Größe Russlands wie zur Zeit Katharinas der Großen, rückwärtsgewandt und daher nicht mehr zeitgemäß. Doch die widerrechtliche Annexion der Krim, militärische Unterstützung des kulturellen und Sprachkonflikts in Donbass (überwiegend russischsprachig) seit 2014 und der Angriffskrieg gegen die Ukraine von heute ist genau dieser Ausdruck von Putins kolonialem Anspruch.
 
Was sagst Du zu den Argumenten der russischen Führung, die ukrainische Regierung unterdrücke die russische Sprache zugunsten der ukrainischen und sei mit Nazis durchsetzt?
Die russische Sprache ist gemeinsame Sprache aller Menschen in der Ukraine und wird es vermutlich immer sein. Die Bestrebungen der ukrainischen Regierung die ukrainische Sprache zur offiziellen Amtssprache zu machen wird davon aber nicht berührt. Es stimmt also nicht, wenn die russische Propaganda behauptet, die ukrainische Sprache wird mit Gewalt durchgesetzt. Und was den Vorwurf mit den Nazis angeht, da ist es so, dass auch rechtsnationale Politiker Teil der Regierung sind. Das ist aber meiner Meinung nach nichts Außergewöhnliches und gehört auch zu einer Demokratie, die ja in der Ukraine sich noch am entwickeln ist.
 
Wie konnte Deiner Beobachtung nach die Situation im Donbass militärisch so eskalieren?
Es gab nach der Maidan-Revolution 2014 im Osten um Donezk und Luhansk eine Gegenbewegung der überwiegend russischsprachigen Bevölkerung, den sogenannten Anti-Maidan, Diese wurde durch russische Propaganda aufgestachelt, die behauptete, dass die russische Sprache unterdrückt würde. Das erzeugte besonders bei der stark von Russland geprägten Bevölkerung des Ostens viel Angst, was dann in Demonstrationen mündete, die von der damals stark nationalistisch gefärbten Übergangsregierung unter Jazenjuk mit militärischen Mitteln als Antwort auf die militärische Unterstützung seitens Russlands unterbunden werden sollten. Daraus entwickelte sich der Donbass-Krieg, worunter auch viel Zivilbevölkerung gelitten hat. Wenn man Putin besser zugehört hätte, wäre dem Westen klar geworden, dass er diesen inszenierten Konflikt nutzen würde, um seine Groß-Russland-Pläne über die Eintrittstür des Donbass-Konflikts zu verwirklichen. Ähnlich wie in Georgien in 2008 werden innerstaatliche gesellschaftliche Konflikte in den Nachbarländern Russlands militaristisch und finanziell von der russischen Regierung verdeckt unterstützt, um lokale Konflikte militaristisch zu färben und eigenen Einsatz als Befreier oder "Pacemaker" darzustellen. Dies ist der Kern der hybriden Kriegsführung.
 
Wie haben Freunde von Dir, die dort leben, auf den Einfall von Putin reagiert? Und was wirst Du selbst tun?
Viele von ihnen haben das als unausweichlich betrachtet und sich dann entschieden ihr Land zu verteidigen bis zum letzten. Ich würde das auch machen, wenn ich noch dort leben würde, obwohl ich Pazifist bin. Was ich aber vorhabe, ist an die polnisch-ukrainische Grenze zu fahren und einigen Flüchtlingen hier eine sichere Unterkunft zu verschaffen. Vor allem wegen der Kinder. Ich habe selbst zwei Kinder. Und ich weiß von vielen Kiewer Frauen, die ihr Kind jetzt noch schnell durch einen Kaiserschnitt zur Welt bringen lassen, weil sie keine Geburt unter den unkalkulierbaren Umständen einer Flucht riskieren wollen. (Er wirkt jetzt sichtlich bewegt.). Es ist einfach unglaublich, dass dies im 21. Jahrhundert in Europa möglich ist, weil ein Mann seine militärische Macht dazu missbraucht, den Lauf der Welt mit großer Gewalt nach seinen Vorstellungen zu verändern. Putin geht es in Wirklichkeit nicht um Donbass oder Krim, ihm geht es um den ganzen Staat Ukraine, genauer um seine (erneute) Einverleibung.
 
Interview mit Sascha
 
Sascha ist Ende 30, Angestellter einer regional ansässigen Handwerksfirma, verheiratet und Vater dreier Kinder; auch er will deswegen anonym bleiben; er ist Nachfahre von sogenannten Wolga-Deutschen, gebürtig aus Kasachstan stammend und seit den 90er Jahren im Zuge der Aussiedlerbewegung mit seiner Familie nach Deutschland gekommen; mit der Bundeswehr hatte er mehrere Afghanistan-Einsätze und weiß daher, was Krieg bedeutet; seine Haltung ist ähnlich wie die von Mykola, jedoch hat er - anders als dieser - großes Verständnis für die Menschen im Donbass, die in einem 8-jährigen Krieg stark gelitten haben und Putin als Befreier betrachten; seine Informationen über die Lage dort und der restlichen Ukraine erhält S. über einen Bundeswehr-Kameraden, der dort Familie hat und regelmäßig im Donbass bei Verwandten Urlaub machte und gegen ukrainisches Militär und Milizen kämpfte.
 
Sascha, wie ist Deine Beziehung zur Ukraine?
Meine deutschstämmigen Großeltern lebten in Odessa und wurden nach dem Weltkrieg von den Sowjetrussen nach Kasachstan deportiert. Von dort kam ich dann in den 90er Jahren nach Deutschland. Ich habe einen deutschen und kasachischen Pass.
 
Wie denkst Du über diesen Krieg und seine Ursachen?
Ich habe Verständnis für die Menschen im Donbass. Das liegt an meinem Freund, mit dem ich zusammen 2009 als Soldat der Bundeswehr in Afghanistan Einsätze hatte. Er ist in der Nähe von Donezk groß geworden und besucht seine Verwandten dort regelmäßig. Bei einem dieser Urlaube wurde er Zeuge eines Mörser-Angriffs von ukrainischen Milizen. Er hat auf Uniformen von denen und auf Panzern SS-Runen gesehen und wusste sofort, dass das Soldaten vom gefürchteten Asow-Regiment waren. Er sagte mir, dass die niemanden verschonen. Da hat er spontan entschieden auf der Seite seiner Leute zu kämpfen. Du musst einfach wissen: im Donbass herrscht seit acht Jahren Krieg und wir im Westen Europas haben davon keine Kenntnis genommen. Ich kann verstehen, wenn die Menschen dort sich den Schutz von Putin wünschen, weil sich sonst niemand für sie und ihr Leid interessiert hat. Und ich kann auch verstehen, dass die Donbass-Russen wenig Mitgefühl für die Menschen der West-Ukraine haben, denn was die jetzt erleben, haben Sie seit acht Jahren jeden Tag erlebt: Tod und Elend.
 
Bist Du also einverstanden, dass Putin die ganze Ukraine angegriffen hat?
Nein, überhaupt nicht. Das hat mich total geschockt. Ich kann zwar verstehen, dass er die Regierung der Ukraine absetzen will, weil die die russische Bevölkerung im Donbass nicht ausreichend geschützt hat, aber ich dachte, Putin würde sich damit begnügen diese Region einzunehmen. Ich bin auch fassungslos, dass Putin bereits ist, so viele eigene Soldaten zu opfern, um sein Ziel zu erreichen.
 
Wie denkst Du über den weiteren möglichen Verlauf dieses Krieges?
Ich hoffe, dass die Verhandlungen heute zu einem Frieden führen und Schlimmeres verhindern. Was ich aber sehr kritisch sehe, ist die Lieferung von 500 Stinger-Raketen aus deutschem Bestand (https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/517740/500-Stinger-Raketen-und-1000-Panzerabwehrwaffen-Deutschland-liefert-Waffen-an-die-Ukraine ). Wenn diese Waffen in die falschen Hände geraten, dann ist das unter Umständen eine große Gefahr auch für den zivilen Luftverkehr. Ich denke da z.B. an den nicht aufgeklärten Abschuss der MH-17 über ukrainischem Luftraum im Juli 2014. Wovon ich aber zutiefst überzeugt bin, egal wie die Verhandlungen verlaufen: Putin wird auf keinen Fall den Donbass aufgeben.
 
Interviews: Robert Herschler


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