Der Uersfelder Fels in der Sinziger Brandung
Sinzig/Uersfeld. »Ich habe viele Tränen vergossen, aber es waren auch viele Freudentränen dabei«, sagt Ingrid Büntgen-Inghoffen. Mit ihrer Tochter Uta Büntgen wohnte sie in Sinzig unmittelbar an der Ahr. In der Nacht des 14. Juli war das Erdgeschoss komplett untergegangen, in der ersten Etage stand das Wasser 70 Zentimeter hoch. Dass aus den Tränen der Verzweiflung zunehmend Freudentränen wurden, ist maßgeblich Michael Gräff aus Uersfeld zu verdanken. Als der Schreiner am Nachmittag des 14. Juli von der Arbeit nach Hause kam, sagte er noch zu seiner Frau Dagmar Jahn-Gräff: »200 Liter Wasser – der Wetterbericht hat maßlos übertrieben.« Diese Einschätzung änderte sich schlagartig, als das Ehepaar am nächsten Morgen im Radio von weggespülten Häusern in Schuld erfuhr. Sofort machten sie sich auf den Weg zu Bekannten bei Schuld zu helfen. Nachdem dort alles getan war, half das Ehepaar ein Wochenende beim Sortieren der Spenden am Nürburgring. »Am vierten Wochenende war klar, wir müssen weiter helfen«, sagt Michael Gräff. Er wollte möglichst seine handwerklichen Fähigkeiten einsetzen und bot in einer Facebook-Gruppe an, defekte Türen nachzuhobeln. Es meldete sich Doris Elsweiler, eine gute Freundin von Uta Büntgen, die über die Sozialen Medien ständig Helfer und Material für das Büntgensche Haus der zusammentrommelt.Ingrid Büntgen-Inghoffen und Uta Büntgen erlebten den 14. Juli völlig anders als das Ehepaar Gräff. Dreimal sei die Feuerwehr an dem Abend gekommen und habe gewarnt, erzählt Uta Büntgen. Zunächst habe man die Autos wegstellen sollen, später die Habseligkeiten ein Stockwerk bringen. »Am Schluss kam ein Feuerwehrmann ziemlich außer Atem und sagte, dass wir die Häuser verlassen sollen.« Es war für lange Zeit das letzte Mal, dass Ingrid Büntgen-Inghoffen ihr Haus sah.
Die Nacht verbrachten sie im Sinziger Helenensaal, als das Unheil Sinzig überkam. Auch der zweiten Tochter und ihrer Familie, die nebenan wohnen, erging es genauso. Zurück ging Ingrid Büntgen-Inghoffen nicht mehr, kam stattdessen vorübergehend in einer Senioreneinrichtung bei Koblenz unter. Zurückzukehren konnte sie sich nicht vorstellen. »Ich habe sämtliche Altenheime und Einrichtungen angerufen«, berichtet sie. Die Bilder und Erzählungen ihrer Tochter waren zu schlimm. Von vorne herein habe sich gewusst, dass sie diese Aufgabe lösen könne, erzählt Uta Büntgen. Doch anfangs sei sie wie paralysiert gewesen: »Andere haben für mich gedacht. Ich habe Entscheidungen abgenickt, von denen ich gar nicht wusste, was ich da abnicke.« Michael Gräff war der Glückgriff. Nach dem Richten der Türen ging es weiter: Fenster neu ausrichten, Rolladen einsetzen, eine Tür, die seit langer Zeit im Obergeschoss stand und auf ihren Einbau wartete, einbauen. »Ich habe gesagt, wenn es mit Holzarbeiten weitergeht, komme ich gerne noch einmal helfen«, erzählt Gräff. Darüber ist er mittlerweile längst hinausgewachsen, fungiert als eine Art »Bauleiter«, plant mit Mutter und Tochter den Neuaufbau, instruriert die feste Helfertruppe, die sich mittlerweile gebildet hat, und erstellt unter der Woche nach seiner Arbeit Pläne und Materiallisten.
Zum festen Trupp der Helfer im Haus zählt auch Viola Riedel. Sie lebt im nicht betroffenen Teil von Bad Bodendorf. Aufgrund des tagelangen Stromausfalls nach dem 14. Juli erfuhr sie erst einige Tage später vom gesamten Ausmaß der Katastrophe. Sie arbeitet als Masseurin im Krankenhaus Bad Neuenahr, ist aber aufgrund der dortigen Zerstörung derzeit in Kurzarbeit. Diese Zeit will auch sie nutzen, um zu helfen. »Wenn man als Helfer einmal dabei war, kann man nicht anders«, sagt sie. Immer wieder ist auch Frank Henzel aus Bergisch-Gladbach dabei. Seine Nicht half damals mit dem Roten Kreuz beim Oder-Hochwasser. »Ich wollte eigentlich auch helfen und habe immer bereut, dass es nicht dazu gekommen ist.« Im Ahrtal konnte er diesmal zupacken. Nach etlichen anderen Stationen landete er im Büntgenschen Haus. Ingrid Büntgen-Inghoffen will inwzischen wieder zurückziehen. »Eine Freundin schrieb einmal: ‚Ich schicke dir Kraft.‘«, erzählt sie. Diese Kraft kam tatsächlich an und mit den positiven Nachrichten aus der Heimat entstand der Entschluss zurückzuziehen. Derzeit lebt sie in einer Ferienwohnung in Bad Breisig. Bereut haben Gräffs den Einsatz ihrer Freizeit nicht einen einzigen Tag. »Diese Dankbarkeit zu sehen ist besser als dafür Geld zu bekommen. Ganz am Anfang war Uta eine gebrochene Frau«, sagt Michael Gräff. »Es war schön, wie man von Woche zu Woche sah, dass die Hoffnung wächst«, ergänzt seine Frau. »Er ist nicht nur kräftig, sondern ein Fels in der Brandung«, sagt Ingrid Büntgen-Inghoffen mit einem Lächeln – und mit einem zuversichtlichen Blick in die Zukunft.