Herta Müller trägt sich ins Goldene Buch ein

Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller ist gestern Abend in Wittlich mit dem Georg-Meistermann-Preis ausgezeichnet worden. Das Preisgeld (10.000 Euro) wird sie der Flüchtlingshilfe zur Verfügung stellen. Die Laudatio im voll besetzten Eventum hielt Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments und gelernter Buchhändler. Die Fotos entstanden zuvor im Alten Rathaus der Stadt, wo Herta Müller sich ins Goldene Buch der Stadt eingetragen hatte.  Fotos: P. Geisbüsch Hier finden unsere Leser den kompletten, vorab veröffentlichten Text der Laudatio von Martin Schulz:    (Es gilt das gesprochene Wort) Sehr geehrte Preisträgerin, liebe Herta Müller, Sehr geehrter Herr Bürgermeister Rodenkirch, Sehr geehrter Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung Stadt Wittlich, Herr Professor Hermann, Sehr geehrte Stiftungsmitglieder, Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste,    "Alles was ich habe, trage ich bei mir", mit diesem Satz beginnt der 2009 erschienene Roman «Atemschaukel» von Herta Müller.  “Alles was ich habe, trage ich bei mir" - was für ein Satz! Einer dieser Müller Sätze, die den Leser nie mehr los lassen. Eindringlich, einzigartig, unerhört, hart und gleichzeitig von ungeheurer poetischer Schönheit.    Mit diesem ersten Satz zog mich Herta Müller in das Grauen der Lager, in die Gewalt der Diktatur, ließ mich Außenseiter sein und Heimatlosigkeit erfahren. “Atemschaukel” war eine mich zutiefst berührende Begegnung mit der 1953 in Nitzkydorf, im Banat, in Rumänien geborenen Schriftstellerin, die in diesem Roman die Erfahrungen ihrer Mutter, die mehrere Jahre in sowjetischen Lagern gefangen war, schildert, vor allem aber auch die Lebensgeschichte des Dichters Oskar Pastior. Als 17jähriger wurde dieser in ein sowjetisches Straflager verschleppt. Damit steht er exemplarisch für das lange tabuisierte Schicksal der fast 80.000 Rumäniendeutschen, die  wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit nach 1945  in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit deportiert wurden. Mit diesem Roman setzt Müller ihrem Freund Pastior in seinem Alter ego Leopold Auberg ein großartiges Denkmal. Auf seine mündlichen Erzählungen und Recherchen gestützt hat sie dieses Buch verfasst - ein sprachgewaltiges, aufwühlendes, mitunter verstörendes Werk, das Erinnerung und historische Wahrheit zu Poesie verschmelzt. Über Herta Müller ist viel gesagt und geschrieben worden. Von Schriftstellern und Philosophen, von Literaturprofessoren und Feuilletonisten. Mit denen kann und will ich nicht konkurrieren. Ich will Ihnen heute von meinen ganz persönlichen Begegnungen mit dem Werk einer der ganz großen Schriftstellerinnen unserer Zeit, und mit einer mutigen,  einer unbeugsamen Frau berichten. Als Leser, als Buchhändler, und als Europapolitiker aus Deutschland. Als im Nachkriegsdeutschland, nahe der deutsch-holländisch-belgischen Grenze Geborener und Aufgewachsener begannen meine politischen Aktivitäten wie die so vieler meiner Altersgenossen, damit, dass ich im Wahlkampf Plakate klebte: “Willy wählen”. Und auch meinen Beweggrund teilte ich mit vielen meiner Altersgenossen: Es war der Schwur "Nie wieder", dem ich mein ganzes politisches Leben verschrieben habe. Aus diesem Schwur heraus, aus einer Abkehr von der dunklen Seite Europas im 20. Jahrhundert  - dem Säbelrasseln, dem Kriegstreiben, dem Rassenhass, dem Niederringen, dem Unterwerfen, dem absoluten Vernichtungswillen, der unseren Kontinent nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen bereits zum zweiten Mal binnen weniger Jahre in Schutt und Asche legte und Menschen dazu brachte, dass sie ihren Nächsten unvorstellbares Leid antaten, ihre Häuser niederbrannten und ihre Familien auseinanderrissen, andere Menschen einsperrten, folterten, und töteten -  aus diesem Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte heraus  entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - zunächst in Westeuropa - ein einzigartiger Gegenentwurf:  In der Abkehr vom Totalitarismus entstand eine Gesellschaft, die sich der Demokratie, der Meinungsfreiheit, der Würde des Menschen und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Völkern verschrieb.   Das Grauen unserer Vergangenheit ist Teil unseres deutschen, aber auch unseres europäischen Bewusstseins und unserer gemeinsamen Erinnerungskultur geworden.  Aus dem Wissen um die Millionen Toten, die Qualen der Opfer und aus der Entschiedenheit des "Nie wieder" heraus, erwächst für uns als Nachgeborene die Pflicht, jeden Tag die Freiheit und die Demokratie energisch zu verteidigen; jeden Tag für die Unbedingtheit der Würde des Menschen einzustehen; jeden Tag einzuschreiten gegen die Rückkehr von Dämonen, die wir in Europa für überwunden hielten und die doch immer wieder ihre hässliche Fratze erheben. Denn aus dem Erinnern erwächst eine Mahnung. Diese Mahnung hat uns Bundespräsident Richard von Weizsäcker mitgegeben: "Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahr.“   Was aber, wenn die Erinnerung an das Grauen unserer Vergangenheit verblasst? Was aber, wenn die Überlebenden nicht mehr Zeugnis ablegen können? Was aber, wenn die Geschichtsvergessenheit jener weiter um sich greift, die heute angesichts der größten Flüchtlingsbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg wieder Mauern in Europa errichten wollen? – und das nur ein Viertel Jahrhundert nach dem Fall der Berliner Mauer! Oder jener, die unsere humanitäre Verpflichtung leugnen, Kriegsflüchtlingen Schutz zu bieten, eine Verpflichtung, die wir Europäer uns aus unserer ureigenen Erfahrung mit Millionen Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg zu Recht auferlegten. Was aber, wenn jene siegen, die nicht nur “die Toten ruhen lassen” und “Vergangenes endlich vergessen “ wollen, sondern sogar den Verletzungen der Opfer noch das Unrecht hinzufügen, erlittenes Leid zu leugnen? Herta Müller hat uns allen mit ihrem Werk eine ganz eigene Antwort auf die Sorge um die verblassende Erinnerung der Grauen des 20. Jahrhunderts gegeben. Zunächst: Herta Müllers Werk mahnt uns die Opfer im Osten Europas nicht zu vergessen. Wie oft wurden sie doch gerade im Westen sträflich übersehen, die Verheerungen und Verwüstungen, die der Erste Weltkrieg hinterließ, die Vernichtungen und Vertreibungen, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte, dessen Ende dem Westen Frieden und Freiheit brachte – dem Osten jedoch nicht. Dort kroch der Totalitarismus tief in die Nischen des Alltags, forderte Millionen Menschenleben. Verhungert, ermordet, zu Tode gequält, verscharrt und verleugnet - das war das Schicksal von Hundertausenden im Osten Europas. Herta Müller entreißt die Opfer dem Vergessen, dem Verleugnet werden, lässt Ihnen Gerechtigkeit widerfahren und gibt ihnen, so empfinde ich es, damit ihre Würde zurück. Unzählige Literaturwissenschaftler haben kluge Abhandlungen über Herta Müllers einzigartige Wortverbindungen, die ungewöhnlichen Metaphern und ihre eindringliche Bildsprache verfasst. Haben ihren collagenartigen, gleichzeitig präzisen und mehrdeutigen Schreibstil beschrieben und gepriesen, der beim Leser Unbehagen weckt und der gerade durch das Ausgelassene eigene Wahrnehmungs– und Erfahrungsmöglichkeiten für den Leser schafft.  Herta Müller selbst hat es so beschrieben: “Das, was man nicht aufschreibt, spürt man, in dem, was man nicht aufschreibt”. Sie schreibt die Erinnerungen an die dunkelsten Zeiten des 20. Jahrhunderts fort und gibt uns Nachgeborenen damit das Geschenk des Nichtvergessens, das Geschenk des Sich-Erinnern-Könnens. Eben darin begründet sich für mich der Status von Herta Müllers Werk als poetischem aber auch politischem Meisterwerk. Sie entreißt die Opfer dem doppelten Würgegriff des Vergessens und der Geschichtsschreibung der Täter. Schreiben ist bei ihr ein Akt des sich dem Totalitarismus widersetzen. Schreiben ist ein Akt des Widerstands. Sich dem Grauen zu stellen, dem Leid von Menschen nachzuspüren, das muss unendliche Kraft kosten. Es schmerzt uns ja schon beim Lesen unerträglich. Ich musste einige Mal die "Atemschaukel" beiseite legen, weil ich das Gelesene kaum ertragen konnte, etwa wenn  mit fast buchhalterischer Akribie festgehalten wird, was Menschen anderen Menschen mit dem Terror des Hungers antun können. Wenn schon das Lesen schmerzt wie muss erst das Aufschreiben schmerzen? Und wie unendlich muss der reale Hunger schmerzen, den wir in Europa doch weitgehend überwunden haben? Herta Müller selbst sagte einmal: “Ich kann mich nicht wegschleichen und will mich nicht täuschen, sondern das ertragen, was ich sehe”. Sich nicht wegducken. Sondern sich stellen. Das erfordert ungeheure Kraft. Ungeheuren Mut. Beides hat Herta Müller in ihrem Werk und in ihrem Leben aufgebracht. In einer Erzählung in ihrem Debütband „Niederungen“ beschreibt sie das rumäniendeutsche Dorfleben aus der Sicht eines Kindes. Die Dorfbewohner erscheinen gleichzeitig als Täter, aber auch als Opfer der Verhältnisse. Oft erscheint mir, dass wir in den sich immer mehr beschleunigenden Zeiten zu sehr vergessen, dass diese Ambiguität der menschlichen Natur entspricht. Nur einfach den Daumen hoch oder den Daumen runter sollten eben nicht die Kategorien bei menschlichen Urteilen sein. Die Komplexität und Widersprüchlichkeit einer jeden Person ist in der literarischen Verdichtung bei Herta Müller wesentlich humaner, selbst wenn eine angstgeprägte und teilweise trostlose Stimmung in manchen Geschichten vorherrscht. Deshalb führt uns das Lesen ihres Werkes, weil wir Menschen halt sind wie wir sind, zu uns selbst zurück. Sehr geehrte Damen und Herren, Herta Müller brachte den Mut auf sich der brutalen Ceausescu-Diktatur zu widersetzten. Nach dem Studium der Germanistik und Romanistik arbeitete sie zunächst als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik. Dort wollte sie die Geheimpolizei Securitate zur Zusammenarbeit nötigen. Sie weigerte sich. Und saß von nun an auf einer Treppe, denn den Arbeitsplatz hatte man ihr entzogen, sie machte Übersetzungen, die niemand angefordert hatte und wurde von den Kollegen gemieden, denn – und das zeigt die perfide Unmenschlichkeit dieses Systems exemplarisch auf - der Geheimdienst hatte das Gerücht gestreut, Müller würde als Spionin mit der Securitate zusammen arbeiten. Es folgten Schikanen im täglichen Leben, es folgten Arbeitsplatzverlust, Verhöre und Wohnungsdurchsuchungen, Zensur und Schreibverbote. Wir haben es eben in der Nobelpreisrede gehört: Herta Müller hat viele Menschen daran zerbrechen sehen und war selbst kurz davor zu zerbrechen, als sie 1987 in die Bundesrepublik ausreisen konnte. Dass Deutschland solchen Widerstandskämpfern eine neue Heimat gegeben hat, ist etwas, worauf unser Land stolz sein kann. Daran sollten wir uns öfter erinnern, wenn wir in diesen Tagen manchmal etwas vorschnell über Menschen urteilen, die in höchster Not Schutz bei uns suchen. Ich bin froh, dass Herta Müller Schutz bei uns finden konnte!   Sehr geehrte Damen und Herren, die Diktatur hat das Schreiben gleichsam nötig gemacht und zu verunmöglichen versucht. In einem Interview sagte sie einmal: "Das Schreiben wurde durch irgendetwas notwendig, ich weiß auch nicht, wodurch. Es hat mich geschützt, als ich damit anfing. Innerlich. Außen hat es mich natürlich gefährdet, weil ich dadurch Probleme gekriegt habe mit dem Geheimdienst, mit der Familie.  (...) Ich habe mir das Schreiben nicht ausgesucht (...). Und dann irgendwann gehört das Schreiben zu einem selbst. Es ist ein Eigentum."   Herta Müller ist unbeugsam und unbequem. Dafür wird sie kritisiert. Dafür wird sie angefeindet. Ob wir mit Herta Müller in allem übereinstimmen oder nicht, wir alle sollten ihr dafür dankbar sein, dass sie bis heute unbeugsam und unbequem geblieben ist. Wenn sie etwa Putin als Lügner, der sie krank macht bezeichnet; oder wenn sie anprangert, dass in manchen osteuropäischen Ländern so getan wird, als gehöre Flucht nicht zu ihrer Geschichte; dann mag das nicht jedem gefallen. Aber nicht nur Diktaturen brauchen kritische Geister. Die Demokratie finden erst zu sich selbst, durch Widerspruch, durch Debatte und durch unbequeme Geister. Die Freiheit ist nie so sehr in Gefahr, wie wenn sie als selbstverständlich hingenommen wird. Deshalb: wir brauchen Mahner und Schriftsteller wie Herta Müller, die, um es mit ihren Worten zu sagen, "durch Sprache eine Wahrheit erfinden, die zeigt, was in und um uns herum passiert, wenn die Werte entgleisen."   Sehr geehrte Damen und Herren, Mit dem Georg-Meistermann Preis ehrt die Stiftung Wittlich das Andenken an den großen Künstler und Kulturpolitiker Georg Meistermann und sein unerschütterliches kritisches und konstruktives Eintreten für Demokratie und Meinungsfreiheit. Ohne Frage, Herta Müller ist eine der großen Schriftstellerinnen unserer Zeit. Sie ist aber auch eine mutige Frau. Eine Frau, die niemals schweigt. Sondern unbeirrbar und unüberhörbar den durch Gewalt und Unrecht zum Verstummen gebrachten eine Stimme gibt, unseren Blick auf unsere Vergangenheit lenkt und uns alle aufruft, jeden Tag für die Verteidigung der Menschenrechte und die Würde des Menschen einzutreten. Deshalb: dass in diesem Jahr Herta Müller den Georg-Meistermann-Preis der Stadt Wittlich erhält ist eine ausgezeichnete Wahl. Liebe Herta Müller, herzlichen Glückwunsch zu einer weiteren, verdienten Auszeichnung.


Weitere Nachrichten aus Kreis Bernkastel-Wittlich
Meistgelesen