

von Katja Hommes
Es war Mitternacht, als der 41-jährige Maksym Derendyaev Ende Januar sein Haus in Isjum, einer kleinen Stadt in der Ostukraine, verließ. Seine Frau Lena blieb zurück. Kurz zuvor hatte sie beschlossen, erst später im Jahr an die Mosel zu reisen. "Alles war gut", erinnert er sich. Weder er noch seine Familie glaubten zu diesem Zeitpunkt an einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Es gab Spannungen, ja. Aber ein ernsthaftes Zerwürfnis? "Wir sind doch eigentlich Brüder", sagt Derendyaev, gefragt nach den Beziehungen innerhalb der Bevölkerung. Viele hätten Verwandte in Russland. Doch einige der vermeintlichen "Brüder" sind nun Feinde, erobern sein Land mit Gewalt und Zerstörung. Das Wohnhaus seines Freundes in Isjum liegt in Trümmern. Bekannte in Charkiw, eine Millionenstadt in der Ostukraine und eine der ersten russischen Angriffspunkte, harren im Keller aus - aus Angst vor Luftangriffen. Derendyaev bangt um seine Frau. Nur wenige hundert Meter von ihrem Haus entfernt verläuft die Hauptroute ins Landesinnere. Auch die Schilderungen seiner Tochter Karina, die mit zwei kleinen Kindern in der Nähe von Donezk ausharrt, lähmen den 41-Jährigen. Er hat Angst um seine Familie, seine Freunde, seine Heimat. Die Bilder im Fernsehen machen ihn fassungslos, die Fotos, die ihn via Handy erreichen, noch mehr.
1996 kam Maksym Derendyaev mit seiner Mutter und seinem Bruder an die Mosel. Seine Mutter heiratete einen Poltersdorfer. Der damals 16-jährige junge Mann besuchte in Cochem die Schule. Später begann er eine Ausbildung. Mit 18 Jahren jedoch kehrte er zurück in die Ukraine. Hier verliebte er sich, heiratete, wurde Vater. Den Kontakt nach Poltersdorf hielt er dennoch. Regelmäßig nahm er die langen Fahrten an die Mosel auf sich, denn im Weingut Clemens fand er schließlich eine feste Anstellung. Seit vielen Jahren ist er dort inzwischen nicht nur ein verlässlicher Mitarbeiter, sondern auch ein Freund. "Er gehört einfach zum Weingut dazu", sagt Andreas Clemens, der seinem Angestellten viele Arbeiten in Weinberg und Keller anvertraut. Außerhalb der Arbeitsspitzen an der Mosel zog es Derendyaev jedoch weiterhin in die Ukraine. Das blieb auch so, als er 2017 die deutsche Staatsbürgerschaft annahm. Als er im Januar seine Heimatstadt Isjum verlässt, läuft nicht alles nach Plan. Sein bester Freund wartet vor dem Haus, um ihn nach Charkiw zu bringen. Dort soll um 3.15 Uhr der Bus nach Deutschland starten. Auf dem Weg nach draußen stürzt Maksym eine Treppe hinunter. Sein Rücken schmerzt, doch er rappelt sich auf, schafft es rechtzeitig zur Haltestelle. Mehr als 50 Stunden dauert die Fahrt an die Mosel. Später stellt sich heraus: Der 41-Jährige hat sich bei dem Sturz drei Rippen gebrochen. Was wäre, wenn er, statt in den Bus zu steigen, ein Krankenhaus in der Ukraine angesteuert hätte? Gut möglich, dass er nun die Angriffe der russischen Truppen am eigenen Leib erleben würde. Doch wer ihm zuhört, kann nicht sicher sein, ob ihm das nicht lieber wäre. Als Maksym Derendyaev am vergangenen Donnerstag die ersten Bilder aus seiner ukrainischen Heimat erreichen, kann er zunächst nicht glauben, was passiert. In den ersten Kriegstagen steht er im ständigen Kontakt zu Freunden und Familie. Seine Gemütslage kommt einer Ohnmacht gleich, an Schlaf ist dennoch nicht zu denken. Die Videos, die ihn erreichen, lassen ihn nicht zur Ruhe kommen. Sie zeigen zerstörte Panzer, Häuser in Trümmern, Militärhubschrauber, die Granaten abwerfen. Sie zeigen Leichen, Zerstörung, ein Land im Krieg. Mit dem Mut der Verzweiflung schmiedet Derendyaev einen Plan, um zumindest seine Frau aus dem Kriegsgebiet zu holen. Doch es ist zu spät. Auch sein bester Freund schafft es nicht heraus. Alle Männer über 18 Jahre dürfen das Land nicht mehr verlassen. "An der Grenze zu Polen wird offenbar niemand mehr durchgelassen", glaubt der Poltersdorfer. So wird es ihm zumindest berichtet. Und der Flughafen in Charwin, von dem aus er und seine Frau auch schon Richtung Deutschland starteten - "den gibt es nicht mehr". Dieser Krieg macht ihn sprachlos, ratlos. "Die Ukraine ist seit 1990 ein selbstständiges Land, was will Putin da", fragt er sich wie viele seiner Landsleute. In seiner Verzweiflung sagt er Sätze wie diesen: "Wäre ich an der Stelle von Wolodymyr Selenskyj, ich würde anders reagieren. Die Ukraine hat auch Kampfflugzeuge", betont er bedeutungsschwer. Wo dieser Krieg hinführen soll? Derendyaev weiß es nicht. Er weiß nur so viel: "Es ist die Hölle, es wird die Hölle". Seine Rippenbrüche verheilen langsam. "Ich fühle jetzt nur einen Schmerz", sagt er und klopft mit der Hand auf sein Herz. Es schlägt für seine Familie und für ein Land im Ausnahmezustand, dessen Zukunft ungewiss ist.




