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Robert Syska

Mit Avatar im Klassensaal

Bad Kreuznach. Fern und doch ganz nah: Ein Avatar macht möglich, dass die 10-jährigen Mila trotz schwerer Erkrankung in die Schule gehen kann.

Wenn sich die Klasse 4b der Grundschule in Bosenheim morgens zum Unterrichtsstart mit ihrer Lehrerin im Sitzkreis versammelt, ist Mila mittendrin. Im Unterricht natürlich sowieso - Mila meldet sich, macht mit und tuschelt auch mal mit ihrer besten Freundin. Und in der Frühstückspause, wenn beim Pausenbrot geplauscht und herumgealbert wird, ist Mila ebenfalls dabei. Alles ganz normal, sollte man denken. Allerdings ist für Mila seit dem vergangenen Mai nichts mehr so richtig normal. Denn Mila hat Leukämie.

Seit der Schock-Diagnose pendelt die 10-Jährige regemäßig zwischen der Koblenzer Kinderklinik und ihrem Zuhause in Bosenheim hin und her. Mindestens zweimal pro Woche muss sie während der Chemotherapie ins Krankenhaus, oft auch für mehrere Tage am Stück. Dass Mila trotzdem gemeinsam mit ihren Klassenkameraden am Unterricht teilnehmen kann, verdankt sie dem "AV1" - einem sogenannten Telepräsenz-Avatar.

Das kleine technische Wunderwerk gleicht einer futuristischen Schminkpuppe: Mikrofon und Kamera übertragen das Unterrichtsgeschehen aus dem Klassensaal auf Milas Tablet. Wenn Mila wiederum etwas sagen möchte, transportiert der erstaunlich voluminöse Lautsprecher des Avatars das Gesagte ins Klassenzimmer. Wenn Mila sich meldet, leuchtet der Kopf des Mini-Roboters blau auf. Via App-Steuerung auf ihrem Lerntablet kann Mila den Kopf oder gleich den ganzen Avatar aus der Ferne drehen, um alles, was gerade interessant ist, genau im Blick zu haben. Außerdem kann Mila den Ausdruck des digitalen Avatar-Gesichtes ihrer eigenen Stimmungslage anpassen.

Ohne das elektronische Helferlein, könnte Mila nicht am Unterricht teilnehmen. Das lässt ihr angeschlagenes Immunsystem nicht zu. "Nach der Diagnose im Frühjahr mussten wir davon ausgehen, dass Mila das vierte Schuljahr verpasst", sagt Milas Mutter Maren. Sie hätte die Klasse wiederholen müssen - ohne ihre Freundinnen und Freunde, die sich dann bereits auf die umliegenden weiterführenden Schulen verstreut hätten.

Dass Mila ihr Grundschul-Abschlussjahr nun doch gemeinsam mit ihren Klassenkameraden verbringen kann, geht auf das Konto der Elterninitiative krebskranker Kinder Koblenz. Sie nehmen während eines Klinikaufenthalts Kontakt zu Milas Eltern auf und stellen der Familie den AV1 vor, der derzeit bundesweit in Pilotprojekten im Einsatz ist.

Acht Avatare hat die Elterninitiative mittlerweile angeschafft, ausschließlich spendenfinanziert, wie Katharina Thönnessen, Mitarbeiterin des Koblenzer Vereins, betont. Mila ist die erste, die den Avatar im Schulalltag einsetzt. Trotzdem geht alles ganz schnell: Sowohl die Grundschule als auch die Eltern von Milas Mitschülerinnen und -schülern geben gerne grünes Licht für den Avatar-Einsatz im Klassensaal. "Von Seiten der Elternschaft lief das alles völlig reibungslos", sagt Monika Pfeifer, Klassenlehrerin der 4b. Innerhalb der Klassengemeinschaft sei die Anteilnahme an Milas Schicksal enorm, berichtet sie. Schon bevor sich die Avatar-Möglichkeit ergab, habe es Vorschläge aus der Elternschaft gegeben, Mila via Videoschalte am Unterricht teilnehmen zu lassen.

"Wichtig für die ganze Klasse"

Der elektronische Helfer ist "ein Segen", findet Lehrerin Monika Pfeifer - nicht nur für Mila, sondern für die ganze Klasse: "Das virtuelle Beisammensein tut Mila gut und es tut auch der Klasse gut", sagt sie. Besonders nach den Erfahrungen der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Schulschließungen sei das Gemeinschaftsgefühl unter den insgesamt 16 Schülerinnen und Schülern der 4b nochmal deutlich größer geworden, so die Lehrerin: "Das Gefühl, dass niemand aus der Gemeinschaft fehlt, ist für die Klasse seither enorm wichtig."

In den Unterrichtsalltag fügt sich Milas Avatar mittlerweile nahtlos ein. Nach dem Einschalten, wird morgens immer zuerst die ganze Klasse begrüßt - und nach dem Sitzkreis wird gemeinsam entschieden, neben wem Mila, beziehungsweise ihr Avatar, diesmal sitzen darf. Meistens nimmt Mila aus der Ferne neben ihrer besten Freundin Platz. Sie hat ohnehin immer einen Blick auf den Avatar - falls Monika Pfeifer doch einmal übersieht, dass Mila sich gerade meldet. "Die ganze Klasse ist sehr darauf bedacht, Mila bei Aktionen mit ins Boot zu holen", betont Pfeifer. Das sei für sie als Lehrerin natürlich besonders schön.

Bei der Vorbereitung des Lernstoffs hat Monika Pfeifer den Avatar stets im Hinterkopf und plant den Unterricht so, dass sich Mila und ihr Avatar optimal einbinden lassen. "Selbst Referate kann Mila aus der Ferne halten", sagt die Lehrerin. Klassenarbeiten und Tests schreibt Mila daheim. Damit dabei alles mit rechten Dingen zugeht, schaut dafür für vier Stunden pro Woche eine Kollegin aus der Bosenheimer Lehrerschaft bei Mila vorbei, die sich derzeit in Elternzeit befindet. Dann ist auch Zeit, um Unterrichtseinheiten nachzuarbeiten, die Mila verpasst hat, weil es ihr Gesundheitszustand gerade nicht zulässt.

Benotet wird Mila wie all ihre Freundinnen und Freunde auch - nur vom Sport ist sie natürlich befreit. Für die Vergabe der Halbjahreszeugnisse war sie im Februar erstmals wieder bei ihrer Klasse - ganz analog diesmal. Mit Rücksicht auf Milas Immunsystem wurde die Zeugnisvergabe kurzerhand auf den Schulhof verlegt. "Die Wiedersehensfreude war natürlich riesig", sagt Klassenlehrerin Pfeifer.

Mila selbst hat sich mit ihrem Avatar und der Technik gut angefreundet. Vor seinem ersten Einsatz in der Schule hat sie den Mini-Roboter geschmückt und verziert, um dem AV1 ihre ganz persönliche Note zu verleihen. "Echter Unterricht ist natürlich besser", sagt Mila. "Aber mittlerweile klappt es echt gut - und es ist auf jeden Fall besser als gar kein Unterricht."

Bis Ende März dauert Milas Intensivtherapie noch an. Wenn alles gutgeht - und es Milas Immunsystem zulässt - kann die tapfere Zehnjährige nach Ostern vielleicht schon wieder selbst in die Schule gehen ... und den Rest des Abschlussjahrs gemeinsam mit ihren Freunden verbringen.

Hintergrund:

  • Acht Avatare hat die Elterninitiative krebskranker Kinder Koblenz am Kemperhof derzeit im Einsatz.
  • Die Avatare werden sowohl in Grund- als auch in weiterführenden Schulen eingesetzt.
  • Datenschutz wird groß geschrieben: Die Verbindung zum Avatar ist Ende-zu-Ende-verschlüsselt und läuft über Server in Deutschland. Für den Einsatz ist die Zustimmung aller Eltern der Klasse notwendig.
  • Für betroffene Familien ist der Avatar-Einsatz kostenlos, finanziert durch Spenden. Wer das Projekt unterstützen will, erhält weitere Informationen unter: www.eikkk.de

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