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Klaus Desinger

"Meine Oma ist meine Heldin"

Kirn / Kiew. Valentina wurde gestern 83 Jahre alt. Hinter ihr liegt eine atemberaubende Flucht, eine Odyssee des Schreckens. Aus der Ukraine machte sich die betagte Dame auf den Weg nach Kirn.
Enkelin Alena erinnert sich an die atemberaubende Reise ihrer Oma aus der Ukraine nach Kirn. Eine Reise, die zur Flucht wurde.

Enkelin Alena erinnert sich an die atemberaubende Reise ihrer Oma aus der Ukraine nach Kirn. Eine Reise, die zur Flucht wurde.

»Oma ist meine Heldin«, schwärmt Alena Spenst (32) aus Kirn. Schon sehr früh wurde ihre Großmutter zur Witwe, schlug sich in der Ukraine alleine durch das Leben. Erst vor zwei Wochen hat sie ihren einzigen Sohn zu Grabe getragen, berichtet die Enkelin im WochenSpiegel-Gespräch. »Dieser Tod kam sehr plötzlich. Das hat sie und unsere Familie in diesen ungewissen Zeiten sehr mitgenommen. Da meine Mutter in Deutschland lebt und wir meine Oma mit ihrer Trauer nicht alleine lassen wollten, haben wir beschlossen, sie zu uns zu holen«, berichtet Alena. Schnell war ein Flug von Kiew nach Frankfurt gebucht. Die Reise begann am 23. Februar um 18 Uhr. Valentina betrat einen Zug, der sie nach Kiew bringen sollte. Auf halber Strecke erhielten die Passagiere um 5 Uhr morgens die Meldung: »Wir haben Krieg! Putin hat die ukrainischen Grenzen überschritten und greift militärische Stützpunkte an.« »Sie können sich denken, dass ab diesem Zeitpunkt in einem Menschen einfach alles zerbricht«, bemerkt die Enkelin. Im Zug herrschte Stille und doch begann der Austausch untereinander. »Die Leute telefonierten und die anfängliche Panik wich einer Entschlossenheit. So bald klar war, welchen Weg jeder für sich einschlagen wollte, begann die gegenseitige Hilfe. Fahrgemeinschaften wurden gegründet, Übernachtungsmöglichkeiten angeboten, Ausreisen geplant«, erinnert sich Alena. Durch einen Zufall wurde ihrer Oma von einem jungen Mädchen eine Busfahrkarte nach Warschau angeboten, die sie dankend annahm, da alle Flüge storniert waren.

Die Nächstenliebe war ungebrochen

»Die Unruhe kurz vor Kiew muss greifbar gewesen sein, dennoch war die Nächstenliebe ungebrochen. Alle halfen sich, das Gepäck wurde getragen, Menschen in die Richtungen begleitet, wo ihre Busse standen. Ich kann nicht glauben, dass diese tapferen Menschen nicht in Panik verfallen sind, trotz der Meldungen von Bombenangriffen und Sirenengeheul. Schließlich saß die Oma nun in einem Bus, doch der Albtraum ging weiter. Von Haltestelle zu Haltestelle, um alle Menschen, die ein Ticket haben, mitzunehmen. »Es wurde an den Stationen gewartet auf diejenigen, die in einem Anschlussbus saßen und wegen des Staus nicht vorankamen«, berichtet Alena über Omas Schilderungen. »Niemand wir zurückgelassen«, habe Valentina entschlossen gerufen, als ihre Tochter in Kirn ungeduldig fragte, warum der Bus nicht losfahre. Wir kennen die Fernsehbilder, der Stau wurde immer länger, so dass die Fahrzeuge viele Stunden in Kiew feststeckten. Die Verzweiflung wuchs. Menschen bettelten, mitgenommen zu werden, die Gesichter voller Tränen und Angst«, beschreibt Valentina die Lage. Erstes Aufatmen, als der Bus die Kiewer Region verlassen hatte. Die Oma war nun schon 48 Stunden unterwegs, an Schlaf war kaum zu denken. Unmittelbar vor polnischem Staatsgebiet kam die nächste Hiobsbotschaft; Zwei Tage müssen die Menschen voraussichtlich warten, bis sie die Grenze übertreten kö

Erleichterung bei der Überfahrt nach Polen

nnen. »Pures Glück ersparte meiner Oma und den anderen Insassen dieses Warten. Sie wurden mit einem vorausfahrenden Bus voller Waisenkinder nach einigen Stunden durchgewunken. Meine Mutter telefonierte über einen Messengerdienst ständig mit meiner Oma«, erinnert sich Alena. Die Erleichterung und neue Energie haben eingesetzt bei der Überfahrt nach Polen. Geschafft. Der Schrecken war vorbei. In Warschau sei die Hilfe der Menschen abermals unglaublich gewesen. »Auf der Suche nach dem richtigen Weg zum Flughafen bemerkte ein junges Pärchen die Oma, packten sie unter den Armen und begleiteten sie zum Airport. Sie halfen beim Einchecken und blieben so lange bei ihr, bis sie zum Gate gehen durfte«, berichtet die Enkelin. Es sei der letzte Flug gewesen, den sie an diesem Tag noch hätte nehmen können. »Als meine Eltern erfuhren, dass Großmutter im Flieger sitzt, fuhren sie sofort nach München, um sie dort abzuholen. Als sie sich in den Armen lagen, waren die vier Stunden zurück nach Kirn nur noch ein Katzensprung«, so Alena. Eine alte Dame, die ihren Sohn verlor, in ihrer Trauer quer durch die Ukraine fuhr, in einen Krieg geriet, den die zivile Bevölkerung und die ganze Welt nicht wollte. Sie brauchte über drei Tage ohne Schlaf, mit wenigen Lebensmitteln und Wasser, um bei ihren Liebsten zu sein. Alena ist sehr stolz auf ihre Oma und auf die Menschen, die ihr begegnet sind. »Wir dürfen nicht vergessen, dass Liebe und Freundlichkeit den Hass nicht gewinnen lassen und uns niemand entzweien kann«, ist Alenas Botschaft.


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