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Häusliche Gewalt kennt keinen Lockdown

Experten erwarteten eine Zunahme an häuslicher Gewalt während des Lockdowns. Haben sich die Befürchtungen bisher bestätigt?
Opfer häuslicher Gewalt sind auch im Lockdown nicht allein: Anlaufstellen wie die Caritas oder der Weisse Ring beraten, helfen bei rechtlichen Fragen und leisten seelische Unterstützung. Foto: pixabay

Opfer häuslicher Gewalt sind auch im Lockdown nicht allein: Anlaufstellen wie die Caritas oder der Weisse Ring beraten, helfen bei rechtlichen Fragen und leisten seelische Unterstützung. Foto: pixabay

 Jedes Jahr erhebt das Bundeskriminalamt  (BKA) die Daten zu partnerschaftlichen Gewalttaten in Deutschland. Die Zahlen sind hoch: 141.792 Menschen wurden 2019 Opfer häuslicher Gewalt – davon sind 114.903 weiblich und 26.889 männlich. 301 Frauen und 93 Männer wurden sogar durch die Hand ihres Partners getötet. Frauen sind darüber hinaus besonders von sexueller Gewalt (3027) betroffen (Männer: 59). Nicht nur Erwachsene erleben Misshandlungen: Die Jugendämter haben 2019 laut Statistischem Bundesamt bei rund 55 500 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt – 10 Prozent mehr als 2018.
Und die Zahlen im Corona-Jahr? Das BKA erklärt auf Nachfrage, dass mit einer umfassenden Auswertung erst in den kommenden Monaten zu rechnen sei. Die Technische Universität München veröffentlichte im Juni 2020 bereits erste Daten: Etwa 3 Prozent der Frauen in Deutschland haben demnach während der Kontaktbeschränkungen körperliche Misshandlungen erfahren. In 6,5 Prozent aller Haushalte wurden Kinder gewalttätig bestraft.
Vor einer Zunahme an Fällen warnte der Weisse Ring. e.V. vor dem ersten Lockdown: »Die Corona-Krise zwingt die Menschen, in der Familie zu bleiben. Hinzu kommen Stressfaktoren wie finanzielle Sorgen und Zukunftsunsicherheit. Diese Spannung kann sich in Gewalt entladen«, mahnte Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender des Weissen Rings im März 2020.

Hilfe wird nicht sofort in Anspruch genommen

Hat sich diese Befürchtung bestätigt? Mit Blick auf ganz Deutschland lässt sich ein Anstieg an Anfragen beim Weissen Ring definitiv erkennen: »Hier gab es im zweiten Halbjahr einen Anstieg von ca. 10 Prozent«, sagt Wolfgang Schmitz, Leiter der Außenstelle Bernkastel-Wittlich. Im Landkreis gab es hingegen keinen signifikanten Anstieg. Doch diese Nachricht hat einen bitteren Beigeschmack: »Die Dunkelziffer bei Häuslicher Gewalt ist so oder so immer sehr hoch«, unterstreicht Schmitz. Er gehe davon aus, dass sich der Corona-Effekt zeitverzögert zeigt, da Opfer oft einige Zeit brauchen, um sich Hilfe zu suchen. Damit Opfer ihr Schweigen brechen gibt es öffentliche Kampagnen vom Weissen Ring. "So gab es im Sommer 2020 bereits die Kampagne 'Schweigen macht schutzlos - #mach dich laut'", berichtet Schmitz. Ähnlich wie im Kreis Bernkastel-Wittlich sieht es auch im Eifelkreis aus, berichtet Werner Keggenhoff, Landesvorsitzender des Vereins in Rheinland-Pfalz. In Bitburg-Prüm sei kein Anstieg der Zahlen zu verzeichnen aber auch er rechne mit einer Steigerung, sobald mehr Menschen Hilfe in Anspruch nehmen. Die Caritas Interventionsstelle Eifel Mosel (IST) geht ebenfalls davon aus, dass sich die Pandemie-Folgen erst später zeigen. Ein Anstieg an Hilfesuchenden sei ab Mai in der Region zwar spürbar gewesen, aber dies allein an der Pandemie festzumachen sei im Moment schwierig, erklärt Jana Schneider (Name geändert) von der IST. Die Polizeiinspektion Bitburg konnte sogar niedrigere Fallzahlen am Anfang der Pandemie feststellen. Sie hatte bis zum 15. September 44 Fälle häuslicher Gewalt. 2019 waren es bis zu diesem Zeitpunkt bereits 53 Fälle. Die Gleichstellungsbeauftragte des Eifelkreises Marita Singh warnt aber auch hier vor voreiligen Schlüssen: »Insgesamt ist (oder scheint) die Situation im Eifelkreis nicht so dramatisch, wie das bundesweit der Fall ist. Die Fallzahlen sind nicht gestiegen, sondern anfangs der Pandemie sogar leicht zurückgegangen. Ob es nun wirklich weniger potentielle Gefährdungslagen für Frauen und Kinder gegeben hat, wage ich zu bezweifeln. Unter Umständen kann unter Anwesenheit und Kontrolle des Täters auch schlechter um Hilfe gerufen oder diese in Anspruch genommen werden.« Erstes konkretes Zahlenmaterial erwarten die Kreisverwaltung Bernkastel-Wittlich und die Gleichstellungsbeauftragte Gabriele Kretz beim nächsten Runden Tisch gegen Gewalt in engen sozialen Beziehungen. »Neben der Gleichstellungsstelle ist aber auch das Jugendamt mit dem Thema befasst«, ergänzt Manuel Follmann, Sprecher der Kreisverwaltung. »Zu den Kinderschutzverdachtsmeldungen hat im Jahr 2020 eine Zusatzerhebung stattgefunden, an der sich 34 der 41 rheinland-pfälzischen Jugendämter beteiligt haben. Die Ergebnisse zeigen, dass von Januar bis Ende August 2020 die Anzahl der bei den Jugendämtern eingehenden Gefährdungsmeldungen im Vergleich zum Vorjahr annähernd gleichgeblieben ist.« Im April und Mai seien die Meldungen von Schulen und Kitas aufgrund der Schließungen zurückgegangen. Dafür sei das soziale Umfeld verstärkt tätig geworden und habe sich an die Behörden gewandt. Dass Betroffene oft erst Hilfe in Anspruch nehmen, wenn Angehörige und Beratungsstellen sie unterstützen, weiß auch Ina Wagner-Böhm vom Trierer Frauenhaus. 43 Prozent der Hilfesuchenden kommen über Dritte zu ihr. »Während des Lockdowns an sich hatten wir den, vielleicht auch subjektiven, Eindruck, dass es eher ‚ruhig‘ war und sich vor allem auch vermittelnde Stellen oder Dritte weniger an unser Notruf- und Beratungstelefon wandten.« Da diese Kontakte während des Lockdowns aber eingeschränkt seien, reduziere sich möglicherweise auch die Zugangsmöglichkeit zum Hilfesystem der Frauenhäuser.  2020 gab es insgesamt 385 Notrufe beim Frauenhaus, knapp 100 mehr mehr als im Vorjahr. "Allerdings gab es auch in früheren Jahren immer wieder höheres Notrufaufkommen." so Wagner-Böhm. Außerdem sei ein Anruf auch nicht immer gleichbedeutend mit einer Aufnahme, denn nicht jede Frau hat einen Aufnahmewunsch. Dieser ist auch nicht immer erfüllbar. "Die Kapazitätsgrenzen des Frauenhauses sind auch außerhalb der Pandemie schnell erreicht. So mussten wir in 2020 100 Anfragen wegen Vollbelegung absagen; in 2019 waren es sogar 120 Absagen wegen Vollbelegung." Nur etwa 18 Personen haben in der Einrichtung Platz. Die Planung eines betreuten Übergangswohn-Projektes sei darüber hinaus aufgrund der Corona-Pandemie seitens der Landesregierung ausgesetzt. Für Männer gibt es in der Region keine vergleichbare Notunterkunft. Die Landesministerien Bayern und Nordrhein-Westphalen haben jedoch 2020 eine bundesweite Hotline eingerichtet, sie sich speziell an sie richtet.

"Gewalt geht uns all an"

Bisher zeigt sich in den Zahlen also durchaus ein bundesweiter Anstieg an häuslicher Gewalt, nicht aber signifikant in den Kreisen Bernkastel-Wittlich sowie Bitburg-Prüm. Ein Grund zur Entwarnung ist das nicht. Eingeschränkte Kontakte, Angst oder Scham lassen die Opfer davor zurückschrecken zügig Hilfe in Anspruch zu nehmen. Beratungsstellen bieten aber auch in der Pandemie jederzeit ihre Hilfe an. Jeder, der Gewalt erlebt oder beobachtet, kann sich an diese wenden. Daher richtet Marita Singh einen Appell an die Bürger: »Augen auf und Ohren auf – besonders in der Nachbarschaft – und einfach mal klingeln und nachhören, ob alles in Ordnung ist. Das geht auch mit Maske. Häusliche Gewalt geht uns alle an und ist keine Privatsache!« Infos
  • www. bernkastel-wittlich-rheinland-pfalz.weisser-ring.de
  • www.caritas-mosel-eifel-hunsrueck.de
  • www.bernkastel-wittlich.de/kreisverwaltung/fachbereiche/gleichstellungsstelle/
  • www.frauenhaus-trier.de, Tel. 0651 74444

  • www.eifelkreis-bitburg-pruem-rheinland-pfalz.weisser-ring.de
  • www.bitburg-pruem.de/cms/buergerservice-verwaltung
  • www.maennerhilfetelefon.de, Tel. 0800 1239900
  • Das Kinder- und Jugendtelefon, Tel. 0800 1110333
(ju)


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