

Ich bin hier geboren und für mich war schon im Kindergarten klar, ich werde für immer hier bleiben, denn mein Dorf ist der beste Ort auf der Welt.
Einem Kindergartenkind in den frühen 2000ern nimmt natürlich niemand diese Aussage ab. Der Trend ging in Richtung Stadt. Nichts wie weg nach der Schule, möglichst irgendwohin, wo Breitband-Internet keine futuristische Vision ist und Sushi nicht für einen japanischen Comic gehalten wird. Der Fortschritt nahm dem Dorf die Jugend. Aber wer soll es dieser Generation übel nehmen?
Auf dem Land herrschte eine apokalyptische Stimmung. Die kleinen Läden schlossen, es gab keine Jobs, und in den großen Städten veränderte sich alles zu schnell, um mitzuhalten. In diesem Vakuum wurde ich groß und mit mir alle meine Freunde. Uns zog man die Matchhosen an und ließ uns auf die umliegenden Wälder und Wiesen los, um Tipis zu bauen und jeden Tag ein neues Spiel zu erträumen. Schwer beschäftigt mit Feenverstecken, Sandkuchen und Indianerkriegen bekamen wir nicht viel mit vom langsamen Sterben unseres Dorfes.
Mit der Schule begann dann der sogenannte Ernst des Lebens, der vor allem darin bestand, uns auf eine erfolgsbringende Zukunft vorzubereiten. Eine erfolgsbringende Zukunft, die findet man nicht in der Eifel. So war zumindest der Unterton. Unternehmen und Hochschulen kamen zu uns, um sich zu präsentieren. Solche Tage erfreuten sich immer großer Beliebtheit, nicht weil sich irgendwer für die Uni XY interessierte, sondern weil der Matheunterricht ausfiel. Aber wenn man sich tatsächlich darauf einließ, dann konnte man von solchen Veranstaltungen schon etwas anderes als gratis Kugelschreiber mitnehmen. Große Träume, ein Auslandsjahr in Australien, studieren in Berlin, Karriere, Geld, der erste Porsche. Perspektiven in der eigenen Heimat und regionale Betriebe dagegen? Wenig vertreten.
Ich ging als Au-pair in die USA. Und es war toll. So viel zu "für immer im Dorf bleiben". Ich lebte in einer sonnigen Stadt der freien Liebe, unser Auto fuhr von selbst, und ich lernte, was Sushi wirklich ist. Ach ja, und ich hatte jeden einzelnen Tag Heimweh. Die ersten zwei Monate weinte ich mich täglich in den Schlaf. Danach wurde es besser, aber wirklich komplett fühlte ich mich erst wieder, als ich meinen Fuß auf heimisches Gras setzte.
Als nun sozusagen internationale Bürgerin kam ich zurück, während der Corona-Pandemie, und war nicht mehr ganz so dorfkonform wie vorher. Das ist es wohl, was diejenigen fühlen, die das Dorf verlassen, um nicht mehr zurückzukommen. Man entwickelt sich schneller weiter, als es auf dem Dorf möglich ist. Wird weltoffener, toleranter, bunter. Das konservative, gemächliche Dorf nervt dann doch manchmal. Trotzdem, ich wollte nie wieder weg.
Mein Plan löste sich schnell in Luft auf, denn ich absolvierte eine Ausbildung in Aachen. Ich hatte wirklich alles Mögliche versucht, um in der Eifel zu bleiben, musste mir aber eingestehen, dass man bestimmte Dinge (bisher) hier nicht lernen kann. In den drei Jahren meiner Ausbildung nahm mein ökologischer Fußabdruck merklich Schaden. Schließlich raste ich, sobald ich einen Tag frei hatte, wie eine Irre zurück in die Heimat. Einfach, um das Gefühl zu haben, wieder richtig atmen zu können, und ich bin nicht die Einzige.
Seit dem Beginn des Jahrtausends hat sich viel gewandelt. Man muss nicht mehr weggehen, um Karriere zu machen. Der technische Fortschritt hat es mit einiger Verspätung auch ins Dorf geschafft. Besonders die Corona-Pandemie befeuerte das Homeoffice-Modell. Meine Freunde arbeiten aus dem Wohnzimmer, wenn es sein muss, auch mal von der Couch am Maifeuer aus. Zum Studieren reicht dank Fernuni ein Laptop. Aufgrund von Förderprogrammen boomen Tourismus, Handwerk, Regionalvermarktung. Kleine Läden eröffnen wieder, Regionalität zählt etwas. Duale Ausbildungen gewinnen an Attraktivität - denn für viele Uni-Absolventen sieht's auf dem Arbeitsmarkt gerade eher mau aus.
Das hört sich doch ganz anders an als die deprimierende Zukunft auf dem Dorf, die uns als Kindern prophezeit wurde. Es gibt sie natürlich immer noch, die, die weggehen. Aber was anders ist: Sie haben vor, zurückzukommen. Das Leben woanders verändert. Das bringt Vor- und Nachteile mit sich. Zurückzukommen bedeutet Kulturschock, es bedeutet aber auch, neue Ideen mitzubringen - und diese braucht das Dorf.
Was Menschen an einem Ort hält, das sind aber meistens nicht die Jobs. Jedenfalls sollten sie das nicht sein. Es ist die Lebensqualität.
Lebensqualität bedeutet Natur. Und davon gibt es in der Eifel reichlich. Rauschende Buchenwälder und Blumenwiesen im Sonnenschein. Aber auch graue Tage, die man eingekuschelt vor dem Kamin verbringt. Der Geruch nach einem Gewitter, wenn Nebel vom warmen Asphalt aufsteigt. Ich würde das gegen nichts tauschen wollen.
Lebensqualität bedeutet Gemeinschaft. Es sind unsere Familien und unsere Freunde, die uns halten. Unsere Traditionen und unsere Sprache. Was so anders ist als noch vor zwanzig Jahren: Nicht nur die Gemeinschaft in unserem Dorf ist stark, die Jugend in unserem Dorf ist stark. Und das konnte nur durch Entwicklung geschehen. So steht unser Junggesellenverein nicht nur den Jungs aus dem Dorf offen, sondern auch den Mädchen. Durch die dadurch gestiegene Mitgliederzahl können Dorffeste unterstützt und Traditionen erhalten werden. Um es mit weniger förmlichen Worten zu sagen: Es wird gefeiert, was das Zeug hält. Zwischen Vereinsausflügen ins 17. Bundesland und altehrwürdigen Kirmesgesängen wird eine enge Gemeinschaft geschaffen, die allen offensteht, die dabei sein wollen. Früh besteht dadurch die Möglichkeit, junge Leute in die Dorfgemeinschaft zu integrieren und zu zeigen, wie wertvoll sie für unsere Heimat sind.
Lebensqualität bedeutet auch Zukunft. Und so gut die Sterne auch gerade stehen - Zukunft braucht Einsatz. Von innen und von außen. Unser Dorf platzt aus allen Nähten. Früher gab es genug Wohnraum, schließlich war die Abwanderung groß. Heute, auch bedingt durch den demografischen Wandel, gibt es nicht ausreichend Wohnraum. Meine Generation wohnt in Kinderzimmern, Souterrainwohnungen, außerhalb. Was wir brauchen, sind Grundstücke. Bezahlbare Grundstücke und Häuser. Denn die, die es gibt, die werden allzu oft von wohlhabenden Städtern gekauft, die diese lediglich als Wochenenddomizil nutzen. Wir wollen eine Chance, uns außerhalb von Mutters Keller ein Leben in unserem Dorf aufzubauen.
Ich werde in meinem Dorf bleiben, denn es ist der beste Ort der Welt. Ich werde auch wieder weggehen, denn unsere Erde hat so viel zu bieten und ist wunderschön. Ich bin der Meinung, dass es wichtig ist, mal woanders gewesen zu sein, denn Stillstand bedeutet Rückschritt. Und wenn wir eines gelernt haben, dann, dass es wichtig ist, mit dem Geist der Zeit zu gehen, damit wir und Generationen nach uns eine Chance im Dorf haben.
Siehe auch:
https://www.wochenspiegellive.de/kreis-euskirchen/artikel/der-weihnachtsbaum
https://www.wochenspiegellive.de/kreis-euskirchen/artikel/eine-literarische-mainacht




