Lydia Schumacher

Keine Chance zum Trauern

Marie Luise Baasch aus Wallenborn hat keine Chance, das Grab ihres Mannes zu besuchen, der vor 13 Jahren verstorben ist.

Video: Lydia Schumacher

WALLENBORN. 
Marie Luise Baasch war seit der Beerdigung vor 13 Jahren nicht mehr am Grab ihres Mannes. Das liegt nicht etwa daran, dass sie nicht um ihn trauern würde – ganz im Gegenteil: »Ich liebe meinen Mann, auch wenn er schon so lange tot ist. Aber ich komme einfach nicht die Treppe hinauf«, sagt Baasch.  Sie leidet an Polyneuropathie, Osteoporose sowie einer schwachen Form der Multiplen Sklerose. Deshalb sitzt sie seit 25 Jahren im Rollstuhl.
Auf den Friedhof jedoch führt eine steile Treppe hinauf. Bis ganz nach oben sind es gut 40 Stufen. »Dort, ganz oben, sind meine Schwiegereltern begraben«, sagt Baasch. Das Grab ihres Mannes befinde sich auf der mittleren Ebene. Bis zu seinem Grab wären es immer noch mehr als 20 Stufen, die sie bewältigen müsste. Und die Gräber von Freunden und weiteren Verwandten verteilen sich dazwischen. Alle sind für sie unerreichbar.
Zur Beerdigung ihres Mannes hätten zwei starke Männer sie mitsamt ihres Rollstuhles bis ans Grab getragen, so Baasch. Gleich nach der Beerdigung habe sie mit der damaligen Ortsbürgermeisterin Kontakt aufgenommen. Als diese ihr nicht geholfen habe, habe sie sich an den damaligen Bürgermeister der VG Daun, Werner Klöckner, gewandt. Der habe ihr und der Ortsbürgermeisterin geantwortet, dass das geändert werden müsse. Wenn alles barrierefrei sein solle, gehöre der Friedhof auch dazu. »Nach dem Schreiben hat unsere Ortsbürgermeisterin vorgeschlagen, dass ich einen elektrischen Lift auf den Friedhof bauen könnte«, erinnert sich Baasch. Selbst wenn sie das Geld dafür aufbringen würde, fürchtet sie, dass eine solche Einrichtung nicht lange halten würde: »Am Ende hätten die Kinder Spaß und  würden so lange rauf und runter fahren, bis er kaputt ist.«
Seit Jahren ist Günter Mehles Ortsbürgermeister in Wallenborn. Auch ihn habe sie mehrfach auf ihr Problem angesprochen. Er habe sie immer vertröstet und versprochen, sich zu melden. Mehr, so Baasch, sei bisher nicht passiert.
Überall ist die Rede von »Barrierefreiheit«. Das gilt für Auftritte im Internet, für Produkte und Dienstleistungen, für öffentliche Gebäude und vieles mehr. Gilt das auch für Friedhöfe? Das Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung in Mainz lässt auf Anfrage wissen, dass es nur für Teilbereiche der Barrierefreiheit zuständig sei  wie etwa Barrierefreiheit von Webseiten und mobilen Anwendungen sowie für die Umsetzung der EU-Richtlinie über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen. Für das Thema Friedhof sei das Finanzministerium mit der Landesbauordnung zuständig.
Auf Anfrage des WochenSpiegel antwortet eine Sprecherin des Finanzministeriums: »Zwar findet die Landesbauordnung auf die regelmäßig auf Friedhöfen vorhandenen einzelnen baulichen Anlagen Anwendung, zum Beispiel auf die Aussegnungshallen. Der Friedhof als solches unterliegt jedoch nicht dem Bauordnungsrecht. Damit finden auch die Vorschriften der Landesbauordnung zur Barrierefreiheit keine Anwendung auf die Friedhofsflächen.« Es gibt also demnach keine Pflicht zur Barrierefreiheit auf Friedhöfen. Das,  so heißt es vom Finanzministerium, würden die Gemeinden selbst regeln.
Das Innenministerium des Landes Rheinland-Pfalz lässt den WochenSpiegel wissen, dass Fördergelder beantragt werden können: »Wir können Ihnen mitteilen, dass auch zur Schaffung von Barrierefreiheit auf den Friedhofsanlagen (unabhängig von Hochbaumaßnahmen an Friedhofsgebäuden) Zuweisungen aus Mitteln des Investitionsstocks grundsätzlich gewährt werden können.« Die Ortsgemeinde müsste hierzu einen entsprechenden Antrag auf dem Dienstweg über die zuständige Kreisverwaltung  an das Ministerium des Innern und für Sport richten.  Um 2026 gefördert zu werden, müsste der Antrag bis zum  15. Oktober dieses Jahres vorliegen.
Umso mehr möchte man sich darüber wundern, dass sich bislang niemand mit dem Problem beschäftigt hat, auch wenn es keine Pflicht darstellt. Ortsbürgermeister Günter Mehles sagt, er habe immer sehr viel zu tun und sei ja nur ehrenamtlicher Ortsbürgermeister. Er sei zudem davon überzeugt, dass außer Marie Luise Baasch niemand in seiner Gemeinde das Problem habe. Und für eine Betroffene könne die Gemeinde nicht so viel Geld ausgeben.
Die Zahlen sprechen dagegen: 167 der 414 Einwohner in Wallenborn sind älter als 60 Jahre; 31 von ihnen sind sogar älter als 80 Jahre. »Die Leute kommen mit dem Rollator zum Friedhof, stellen den unten ab und gehen die Treppe hoch bis ans Grab. Niemand hat sich bis jetzt beschwert«, sagt Mehles.
Nach der Anfrage des WochenSpiegel nimmt er sich jetzt die Zeit und macht mehrere Vorschläge: »Wenn die Frau Baasch auf den Friedhof möchte, kann sie unseren Gemeindearbeiter ansprechen. Wenn er vor Ort ist, wird er ihr gerne bis zum Grab helfen«, so Mehles. Auch solle sie darüber nachdenken, sich einen anderen Rollstuhl anzuschaffen, der Treppen befahren könne. Zudem wolle er mit dem Gemeinderat darüber abstimmen, ob man einen Nebenweg, der nach oben zum Friedhof führt, asphaltiert. Jetzt sei er mit tiefen Spuren versehen und könne nicht mit dem Rollstuhl befahren werden. Mehles räumt aber ein, dass dieser Nebenweg eigentlich viel zu steil sei. Er weiß, dass er Fördergelder beantragen könnte. Aber er weiß auch, dass dann immer noch etwa 30 Prozent von seiner Gemeinde getragen werden müssten. »Wir hatten zwei Jahre Haushaltssperre und können gar keine freiwilligen Leistungen erbringen.«   
Marie Luise Baasch findet keinen seiner Vorschläge umsetzbar.  Deshalb sammelt sie jetzt Unterschriften – von anderen Betroffenen, die auch nicht an die Gräber ihrer Liebsten kommen. 

Meistgelesen