Jan Kreller

"Haben fast jeden Tag Sirenen gehört"

Matthias und Andrea Müller sind ein Unternehmerpaar aus Saarburg und haben in ihrem Haus eine vierköpfige Familie aus der Ukraine aufgenommen.
V.l.: Olesja mit Tochter Melanja, Svetlana und Vesko (3.v.r.) sind froh und dankbar, im Haus von Andrea und Matthias Müller (rechts) untergekommen zu sein. Dolmetscherin Natalie (4.v.l.) ist eigentlich in der Altenpflege tätig und unterstützte beim Gespräch mit der ukrainischen Familie.

V.l.: Olesja mit Tochter Melanja, Svetlana und Vesko (3.v.r.) sind froh und dankbar, im Haus von Andrea und Matthias Müller (rechts) untergekommen zu sein. Dolmetscherin Natalie (4.v.l.) ist eigentlich in der Altenpflege tätig und unterstützte beim Gespräch mit der ukrainischen Familie.

Bild: Kreller

Saarburg. Rund 1400 Kilometer Luftlinie trennen Saarburg und das 600-Seelen-Dorf Wolin im Nordwesten der Ukraine. Zwar zählt die Gegend noch nicht zu den umkämpften Gebieten des Landes, doch die Einschläge kamen im wahrsten Sinne des Wortes näher. Der Krieg, der sich im und am Osten der Ukraine entzündet hat, zwingt derzeit Millionen Menschen aus ihrer Heimat. Sie fliehen vor den Truppen der russischen Armee. »Wir haben fast jeden Tag Sirenen gehört«, berichtet Svetlana, die vor dem Krieg Grundschullehrerin war. Unmittelbar nach dem Einmarsch der russischen Streitkräfte sei ein nahegelegener Flughafen bombardiert worden. »Wir hatten Angst und sind deshalb geflohen«, sagt sie. Zusammen mit ihrer Schwester Olesja, deren Tochter Melanja und ihrem Ehemann Vesko haben sie ihr gemeinsam bewohntes Haus, ihr altes Leben zurückgelassen. »Die vierköpfige Familie stand hier bei uns mit nur zwei kleinen Koffern«, sagt Andrea Müller.
 

»Setzt sie in den Bus und lasst sie kommen«

 
Eine Reise ins Ungewisse war es dabei jedoch nicht ganz. Zwar besteht keine unmittelbare familiäre Anbindung nach Saarburg, dafür aber eine freundschaftliche. Natalie, die in Saarburg lebt, gut mit der Familie Müller bekannt ist und selbst deutsch-russischen Hintergrund besitzt, lernte vor einigen Jahren die ukrainische Familie im Bulgarien-Urlaub kennen. Über soziale Netzwerke blieb der Kontakt auch in der Zeit danach erhalten. Als der russische Einmarsch begann, kontaktierte sie Matthias Müller, der sich zusammen mit seiner Frau Andrea umgehend dazu bereiterklärte, die Familie in ihrer Einliegerwohnung in Saarburg unterzubringen. »Setzt sie in den Bus und lasst sie kommen«, lautete die Antwort. Die Müllers haben ihr ehemaliges Hotel zu einem Wohnhaus umgebaut. Nach Abschluss weiterer Renovierungsarbeiten ist Platz für eine zweite Familie. Ein Aufruf bei Facebook und eine Spendenaktion bei Ebay sorgten unterdessen für große Resonanz, Eltern und Lehrer des benachbarten Gymnasiums spendeten Unmengen an Kleidung und Lebensmittel. Von so einer großen Hilfsbereitschaft sei sie überrascht gewesen, sagt Andrea Müller. Die Spenden habe sie zu einer zentralen Sammelstelle nach Konz gebracht, von wo aus die Hilfsgüter an die polnisch-ukrainische Grenze transportiert werden.
 

»Unser Herz und unsere Seele sind in der Heimat«

 
Der Weg führte Olesja, Svetlana, Melanja und Vesko zunächst nach Warschau. Auf dem Weg dorthin erfuhren sie von einer Familie aus Charkiw, dass die russische Armee mittlerweile auch Wohngebiete unter Artilleriefeuer nimmt. Grundschullehrerin Svetlana berichtet, dass einer ihrer ehemaligen Schüler bereits im Krieg umgekommen sei. Der junge Mann sei Teil einer Panzerbesatzung gewesen. »Jetzt wurde er beerdigt.« Alle atmen tief ein. Wie unberechenbar die Lage ist, zeigte sich auch an der Grenze zu Weißrussland, an der der belorussische Diktator Alexander Lukaschenko Panzer auffahren ließ. Lukaschenko ist mit Putin im Bunde und wohl bereit, ebenfalls in der Ukraine einzumarschieren. »Wir glauben, dass wir den Krieg gewinnen können«, sagt Olesja. Und selbst wenn das ukrainische Militär geschlagen wird: »Die Ukraine wird auch nach Putin bleiben.« Die Menschen werden kämpfen, da ist sich auch Svetlana sicher. »Unser Herz und unsere Seele sind in der Heimat.« Für sie ist Putin der Aggressor. Vesko kann etwas gebrochen Deutsch. Er besitzt einen ukrainischen Pass, ist aber gleichzeitig bulgarischer Staatsangehöriger. Letzteres ermöglichte ihm die Ausreise, denn eigentlich dürfen ukrainische Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren das Land nicht mehr verlassen. In den Sommermonaten besserte Vesko seinen Lohn in den Touristengebieten am Schwarzen Meer auf. Von Putin hält er nichts. Er gibt zu verstehen, dass in der Ukraine jetzt auch Schwangere Ziele russischer Bomben werden. »Putin Faschist«, sagt er.
 

Noch ist alles fremd

 
Verletzte oder gar Tote haben sie auf ihrer Reise glücklicherweise nicht gesehen, wohl aber die schiere Masse an Menschen, die weiter nach Westen wollen. Weil sie den Warschauer Hauptbahnhof erst am späten Abend erreichten und zu diesem Zeitpunkt keine Unterkunft mehr vermittelt werden konnte, mussten sie die Nacht in der großen Wartehalle verbringen. Am nächsten Tag ging es weiter im vollbesetzten Reisebus bis nach Trier. Insgesamt 17 Stunden habe die Fahrt gedauert. Nun sind sie froh, endlich irgendwo angekommen zu sein. Auch wenn sie herzlich aufgenommen wurden und sie dankbar sind: Saarburg ist ihnen noch fremd. Doch für die siebenjährige Melanja ist das neue Umfeld noch ein regelrechtes Abenteuer. »Sie ist nicht unglücklich. Ihre ganze Familie ist ja mit hierher gekommen«, sagt Natalie, die die Gespräche dolmetscht.
Einen ersten Termin bei der Ausländerbehörde hat die Familie bereits hinter sich. In knapp vier Wochen kann sie zudem mit ersten Sozialleistungen rechnen. Dann entscheidet sich auch, wann Melanja eingeschult wird. »Wir haben viele Spenden bekommen und investieren viel Zeit in die Unterstützung«, sagt Matthias Müller. »Aber wir sehen den Menschen und helfen gerne.«


Meistgelesen