Julia Borsch

Zwischen Klang und Bewusstsein

Großlittgen/Region (bor). Ärztin, Therapeutin, Musikerin - Anne Kaftan vereint drei Welten, die auf den ersten Blick kaum zusammenpassen. Doch in ihrer Arbeit verschmelzen Klang und Bewusstsein zu einer individuellen Sprache des Seins. Ein Porträt über das Suchen und Finden des eigenen Klangs.

von Julia Borsch

Etwa 400 Meter unebener Waldweg führen zu ihrer Praxis, irgendwo zwischen Eifelruhe und dem Schnauben zweier Pferde. Es ist ein Weg, der sinnbildlich für Anne Kaftans Arbeit steht: uneben, naturverbunden und intuitiv. Hier, wo Medizin, Musik und Psychologie ineinanderfließen, begegnet man einer Frau, die die Grenzen zwischen Körper, Geist und Klang aufzulösen versucht. Aufgewachsen im rheinlandpfälzischen Wittlich, hat Kaftan einen ungewöhnlichen Lebensweg gewählt. Sie ist Ärztin mit langjähriger klinischer Erfahrung in Neurologie, Psychiatrie und Psychosomatik – und zugleich freischaffende Musikerin. Saxophon und Bassklarinette sind ihre Instrumente, die Kunst der Improvisation ihr Ausdruck.

Sie studierte Jazz und Popularmusik am Halleschen Konservatorium, promovierte parallel in Medizin und wurde Schülerin des US-amerikanischen Jazzmusikers und Komponisten Charlie Mariano. Heute spielt sie in Formationen wie Kalima und Puente, bewegt sich zwischen Jazz, Klassik, Weltmusik und experimentellen Tönen. Im Jahr 2023 gründete sie gemeinsam mit Georges Urwald, Jérôme Fohrer und Franck Hemmerlé das Quartett »Charli Himmerot«, in dem die Mitglieder aus Deutschland, Luxemburg und Frankreich Kompositionen und Improvisationen miteinander verbinden.


"Wie klinge ich eigentlich? Wer bin ich, wenn ich nicht nach Noten spiele?"

Doch Kaftan vermeidet Etiketten. Sie versteht sich nicht als Jazzmusikerin, sondern als Musikerin – als jemand, der Klang als Sprache des Inneren begreift. »Resultat meiner Arbeit als Therapeutin und Musikerin ist unter anderem, dass sich festgefahrene Denkstrukturen auflösen lassen«, sagt sie. Wo andere trennen – zwischen Wissenschaft und Kunst, Ratio und Gefühl – sucht Kaftan Verbindungen.

 

ÜBER DAS FINDEN DES EIGENEN KLANGS

Musik ist für Anne Kaftan eine Form der Kommunikation, dort, wo Worte nicht mehr ausreichen. Ihre Improvisationen entstehen aus dem Moment heraus – jedes Stück ein Unikat. Der Wunsch, ihren eigenen Klang zu finden, begleitet sie seit einem Schlüsselerlebnis nach dem Abitur. Damals, während eines Sprachkurses in Frankreich, saß sie mit anderen am Lagerfeuer. »Jemand bat mich, etwas zu spielen. Ich hatte mein Saxofon dabei – und wusste plötzlich nicht, was ich tun sollte. Ich konnte kein Stück aus mir heraus spielen. Das war der Moment, in dem ich wusste: Das muss sich ändern.«Seitdem hat sie sich intensiv mit Improvisation beschäftigt. Für sie bedeutet sie Freiheit, aber auch Ehrlichkeit: das »Erklingenlassen« des eigenen Inneren. »Ich habe nicht geschaut, wie ich klingen sollte, sondern wie ich wirklich klinge, wenn ich einfach spiele. Das, was aus einem herauskommt, muss man wertfrei annehmen – so wie in der Therapie.«

Tatsächlich fühlt sich Musik für Kaftan oft an wie eine Trance – ein Zustand, in dem Zeit und Raum verschwimmen, und etwas Tieferes spürbar wird. Diese Erfahrung verbindet sie mit ihrer Arbeit als Therapeutin, in der sie hypnotherapeutische Ansätze verfolgt. Beides, das Musizieren und das therapeutische Arbeiten, verlangt Offenheit, Vertrauen und Präsenz. »Die Haltung, die ich in der Improvisation habe, ist die gleiche wie in meiner Arbeit als Therapeutin – nämlich offen und wertschätzend zu sein«, erklärt sie. Dass sie heute selbstverständlich über die Verbindung von Musik und Medizin spricht, war nicht immer so. »Ich habe mich früher nie getraut zu zeigen, dass ich beides bin – Medizinerin und Musikerin. Ich dachte, ich müsse eine Seite verstecken.« Erst mit der Zeit habe sie erkannt, dass beide Berufungen denselben Ursprung haben: die Beschäftigung mit dem Inneren des Menschen.

Wenn Kaftan improvisiert, spürt sie den Moment – und manchmal auch die Wiederholung. »Manchmal habe ich Bedenken, dass mir nur das einfällt, was mir ohnehin immer einfällt«, sagt sie und lacht. »Aber dass gar nichts kommt, diese Sorge habe ich nicht. Der eigene Klang entwickelt sich ständig weiter.«


"Die Haltung, die ich in der Improvisation habe, ist die gleiche wie in meiner Arbeit als Therapeutin - nämlich, offen und wertschätzend zu sein."

 

DIE WEIBLICKEIT ALS RESONANZRAUM

Im Laufe ihrer Karriere hat sich auch ihr Blick auf Weiblichkeit und Kreativität verändert. Kaftan weiß, wie tief gesellschaftliche Vorstellungen wirken. »Es ist für Frauen noch immer schwieriger, als Komponistin ernst genommen zu werden. Das Bild des männlichen Komponisten scheint fest in der Kultur verankert zu sein«, sagt sie und verweist auf Frauen wie Clara Schumann, die einst unter fremden Namen komponierten. Heute steht sie mit ihrer eigenen Stimme auf der Bühne – selbstbewusst und präsent.

Als Frau in den traditionell männlich geprägten Bereichen von Medizin und Jazz hat sie ihren Platz gefunden, indem sie ihn sich selbst geschaffen hat. Für sie sind Weiblichkeit und Kreativität keine Gegensätze, sondern Ausdruck derselben Kraft. Auf der Bühne empfindet sie ihr Frausein nicht als Rolle, sondern als Resonanzraum – als Verbindung aus Körper, Stimme und Bewusstsein. Vielleicht ist das der Kern ihrer Kunst: das Zuhören. Nicht nur anderen, sondern sich selbst. Jungen Frauen möchte Anne Kaftan Mut machen, ihren eigenen Weg zu gehen – auch dann, wenn er nicht den Erwartungen entspricht. Für sie bedeutet Selbstentwicklung, alle Facetten ihrer Persönlichkeit zuzulassen und sich nicht auf eine Rolle festlegen zu lassen. Denn Stärke entsteht für sie dort, wo man den Mut hat, sich selbst zu vertrauen – in der Musik wie im Leben.

 

INFO

Anne Kaftan tritt am 22. März 2026 im Kulturhaus Niederanven mit dem Quartett »Charli Himmerot« auf. Karten zur Veranstaltung gibt es online unter: www.luxembourg-ticket.lu

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