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Seit Tschernobyl sind sie eine Familie

Julija war ein Jahr alt, als circa 100 Kilometer von ihr entfernt der Atomreaktor von Tschernobyl in die Luft flog. Das war vor 30 Jahren. Julija lebt heute noch in der Katastrophenregion, in Gomel, der zweitgrößten Stadt Weißrusslands. Ein Bitburger Ehepaar und die junge Frau aus Weißrussland verbindet die Katastrophe.
Als Tschernobylkind verbrachte Julija zehn Jahre lang ihre Ferien bei  Christiane und Klaus Fußhöller in Bitburg. Nun gab es ein Wiedersehen. Mit dabei war Sohn Miro. Foto: S. Schönhofen

Als Tschernobylkind verbrachte Julija zehn Jahre lang ihre Ferien bei Christiane und Klaus Fußhöller in Bitburg. Nun gab es ein Wiedersehen. Mit dabei war Sohn Miro. Foto: S. Schönhofen

Mit elf Jahren kam Julija das erste Mal zur Erholung nach Bitburg, genauer gesagt zu Christiane und Klaus Fußhöller. Die beiden hatten 1995 mit fünf Gleichgesinnten den Verein Kinderhilfe Tschernobyl gegründet, aus einem Gefühl  heraus, »etwas tun zu müssen«, erzählt Christiane Fußhöller.  Zwölf Jahre lang, bis 2006, war Klaus Fußhöller erster Vorsitzender. Als er das Amt niederlegte, löste sich der Verein auf. Aber die Kontakte zu dreien der vielen Kinder, die Jahr für Jahr die Sommerferien bei ihnen in Bitburg verbrachten, ist bis heute nicht abgerissen. Andreij, der in Frankfurt studiert, hat Christiane Fußhöller erst im Mai zum Muttertag angerufen. Olga, inzwischen Managerin in Minsk, hat vor wenigen Tagen mit einem Brief zum 71. Geburtstag gratuliert. Aber die größte Freude erlebte das Ehepaar vergangene Woche, als Julija sie aus dem 2000 Kilometer entfernten Gomel besuchte.  »Ich war hier so lange nicht mehr, aber sie gehören in mein Herz«, beschreibt Julija Liapchuk ihr Verhältnis zu dem Bitburger Ehepaar, das sie elf Jahre lang nicht gesehen hat.  »Ich denke jeden Tag an sie. Es ist Familie.« Noch jetzt, mit Dreißig,  träume sie regelmäßig »ich bin wieder klein und in Bitburg.« Julija hat inzwischen selbst zwei Kinder. Miroslav, ihr sechsjähriger Sohn, ist die 30-stündige Reise im Auto mitgekommen. »Ich wollte ihm zeigen, dass das Leben anders sein kann«, sagt die junge Mutter, die mit ihrer vierköpfigen Familie in Weißrussland auf 36 Quadratmetern lebt. Eigentlich Lehrerin für Weißrussisch und Deutsch, arbeitet sie in einer Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen, denn das garantiert ihrer Familie die Wohnung, die ihr Arbeitgeber stellt. »Für mich ist Bitburg meine Kinderzeit. Ein Traum, ein Märchen.« Ihre Mutter hätte kaum Zeit für sie gehabt. »Bei Christiane war jeder Tag wie ein Fest. Ich habe so viel Liebe hier bekommen.« Deshalb hat sie ihren Sohn mitgebracht.   Ein anderes Leben zeigen »Ich will Miroslav zeigen, dass es ein Leben in Ruhe und Frieden gibt. Bei uns haben die Leute so viele Probleme mit der Arbeit, der Gesundheit und Alkohol.« Mit Miroslav, der kein Wort Deutsch spricht, verständigen sich die Fußhöllers wie damals mit seiner Mutter: »Mit viel Liebe und Herz geht es am allerbesten«, lautet Christiane Fußhöllers einfaches Rezept. Klaus Fußhöller kann heute, dreißig Jahre nach der atomaren Katastrophe in Tschernobyl, die Diskussion um die nahegelegenen Störmeiler in Belgien und Frankreich nicht verstehen. »Wenn man sich vor Augen hält, dass es möglich ist, dass etwas passieren kann, dann reicht das schon.« Er und seine Frau haben die verstrahlten Gebiete in Weißrussland, in denen ihre Ferienkinder lebten, mehrmals bereist und das Elend gesehen, das im Falle eines Atomunfalls droht. Christiane Fußhöller macht sich nach wie vor Sorgen um Julijas Gesundheit. »Sie ist so blass und dünn.« Daher geht sie viel mit ihr und Miroslav spazieren. Der Junge war oft krank, leidet unter seinem schwachen Immunsystem. Seine Mutter sieht das als Folge des Reaktorunglücks. Viele Kinder der zweiten Generation seien krank und viele kämen missgebildet zur Welt. Sie habe Glück gehabt. Aber Julija ist weiter vorsichtig: »Ich gehe nicht in den Wald und esse    keine Pilze und Beeren.« Christiane Fußhöller hat zwei Wünsche: »Ich möchte, dass Tschernobyl nicht vergessen wird.« Der andere ist ein ganz persönlicher: »Mein größter Wunsch wäre, Weihnachten mit all meinen Tschernobylkindern zusammen zu sein. Sie gehören in unser Leben.« bil EXTRA Am 26. April 1986 passierte die Katastrophe, der Supergau in Tschernobyl. Die meiste Strahlung aus dem vierten Reaktor des Atomkraftwerkes kam, von den Regenwolken getragen, ins Gebiet um Gomel. Die Stadt liegt nahe der ukrainischen Grenze. Von dort stammten die Kinder, die Eifeler Gastfamilien aus dem  Verein Kinderhilfe Tschernobyl in den Jahren 1995 bis 2006 in den Ferien zu sich nahmen. Weit weg von Gomel, wo in der Milch damals bis zu 2000 Becquerel pro Liter gemessen  wurden (der maximal zugelassene Wert in Deutschland ist 370) und die Menschen mit weißen Mullmasken zur Schule und zur Arbeit gingen, ihre  Kleider abschüttelten und das Wasser abkochten,  konnten die Kinder in den Sommermonaten verschnaufen. Weit mehr als 1000 Tschernobyl-Kinder nahm der Verein insgesamt auf.


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