Michael Nielen

Online kann man nicht umarmen

Mechernich. Öfters bleiben Stühle leer, wo früher intensive Gespräche geführt wurden, Tränen flossen und gemeinsam gelacht wurde. In den Sucht-Selbsthilfegruppen des Kreises Euskirchen bemerken die Verantwortlichen eine Stagnation bis hin zu einem deutlichen Rückgang der Teilnehmerzahlen.
Mit Sorge beobachten Lydia Müller und Hubert Koch, dass in den Selbsthilfegruppen des Kreises Euskirchen immer mehr Stühle leer bleiben.

Mit Sorge beobachten Lydia Müller und Hubert Koch, dass in den Selbsthilfegruppen des Kreises Euskirchen immer mehr Stühle leer bleiben.

Bild: Michael Nielen

Dabei wird der Bedarf an Hilfe nicht kleiner – im Gegenteil. Hubert Koch und Lydia Müller von der Selbsthilfegruppe aktive Abstinenz »Der erste Schritt« in Mechernich sprechen von einer bedenklichen Entwicklung. »Im Kreis gehen viele Gruppen ein«, sagt Hubert Koch. Besonders deutlich sei das nach Karneval zu spüren gewesen. »Früher rannten uns die Leute die Bude ein«, erinnert er sich. Heute bleibe der Andrang aus – obwohl viele Betroffene mehr denn je zu kämpfen hätten. »Die Probleme sind nicht weniger geworden – eher schlimmer«, stellt er fest.

Konkurrenz aus der digitalen Welt

Die Selbsthilfegruppe hat zusammen mit der Caritas Ursachenforschung betrieben. Das Ergebnis überrascht nicht: Die digitale Welt macht den analogen Gruppen zunehmend Konkurrenz. »Das liegt daran, dass es im Internet unglaublich niederschwellige Angebote gibt«, erklärt Hubert Koch. Überall finden sich Foren, Podcasts oder Selbsthilfegruppen auf Zoom, die mit wenigen Klicks erreichbar sind. Koch: »Solche Angebote sind natürlich verführerisch. Man muss nirgendwo hingehen, kann im Jogginganzug zu Hause bleiben und redet, wenn man will – oder eben nicht.«

Doch gerade darin liegt für Lydia Müller die Gefahr. »Wenn man wirklich eine Selbsthilfegruppe braucht, dann reicht das niederschwellige Angebot nicht«, betont sie. »Man sitzt am Ende allein vor dem Rechner, und die Probleme bleiben.« Viele Betroffene scheiterten schlicht daran, sich aufzuraffen. »Man muss sich bewusst entscheiden, vor die Tür zu gehen«, sagt Koch. »Das ist ein wichtiger Schritt – ein Zeichen von Eigenverantwortung.«

Diese Eigenverantwortung fehle jedoch immer häufiger. »Manche denken einfach: Ich komme jetzt in eine Selbsthilfegruppe, gehe zehnmal hin, und dann ist mir schon geholfen«, sagt Koch kopfschüttelnd. Hinzu kämen falsche Vorstellungen über die Arbeit in den Gruppen, die oft durch das Fernsehen geprägt seien. »Wir sitzen tatsächlich in einem Stuhlkreis, jeder bringt seine Themen mit, und wir sprechen offen darüber. Das ist ehrlich, aber niemals bevormundend.«

Für beide ist klar: Kein digitales Angebot der Welt kann das persönliche Miteinander ersetzen. »Nichts kann den Augenkontakt ersetzen, nichts kann die Wärme ersetzen, die so ein Haufen eben hat«, sagt Koch. »Wenn jemand weint, kann man ihn in den Arm nehmen. Das geht online nicht.« Er verweist auf die positiven Erfahrungen vieler Gruppen. »Die Rückfallquote ist signifikant niedriger, wenn jemand regelmäßig in der Selbsthilfegruppe war. Ich würde sagen, um die achtzig Prozent.«

Die Gruppen kämpfen nicht nur mit sinkender Beteiligung, sondern auch mit Überalterung. »Wir sind schon ziemlich alt«, gibt Koch zu. Jüngere Menschen seien kaum zu gewinnen – dabei seien dort die Probleme mit Kiffen und Partydrogen ebenfalls groß. »Selbsthilfe lebt von Menschen, die sich trauen, den ersten Schritt zu tun«, sagt Lydia Müller zum Abschluss. »Und wer ihn wagt, der merkt schnell, dass man gemeinsam weiter kommt als allein vor dem Bildschirm.«

Der erste Schritt ...

  • Wer aus der Abhängigkeit raus möchte, ist bei der Selbsthilfegruppe »Der erste Schritt« willkommen. Den ersten Schritt kann man unter Tel.: 0177/ 4814072, info@der-erste-schritt-mechernich.de oder www.der-erste-schritt-mechernich.de tun.
  • Die Treffen sind jeden Donnerstag ab 19 Uhr im St. Johanneshaus Mechernich. Sie finden im geschützten Raum statt und sind unabhängig von der Konfession. Alle haben Schweigepflicht.

Siehe auch:

https://www.wochenspiegellive.de/kreis-euskirchen/artikel/unsere-tuer-steht-immer-offen

https://www.wochenspiegellive.de/kreis-euskirchen/artikel/aktive-wege-aus-der-sucht



 


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